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Abiturprüfung Baden-Württemberg 2023 Aufgabe 2: Interpretieren eines Kurzprosatextes
M1: Alfred Polgar (1873-1955) – Der Eremit (1922)
Ich besuchte den Eremiten1 und fragte ihn ohne lange Faxen2: ,,Wie werde ich glücklich?“ Er scheuchte ein Schwalbenpärchen aus seinem Vollbart, das dort nistete, und sprach:
,,Indem du den Wunsch, glücklich zu sein, aufgibst.“
„Das geht über meine Kräfte“, sagte ich.
Der Greis lächelte. ,,Oh, mein Sohn, das ist das einfachste von der Welt. Wünschest du, ewig zu leben? Nein. Wünschest du dir, Weltmeister im Boxen zu sein oder Filmdiva oder Feldherr? Du wünschest dir das nicht, weil kein vernünftiges Wesen Wünsche hegt, die es als unerfüllbar erkennt. Es handelt sich also nur darum, einzusehen, daß du nicht glücklich werden kannst, damit du auch aufhörst, glücklich sein zu wollen. Ziele als unerreichbar erkennen und sich Mühsal der Wege zu ihnen ersparen: das ist aller praktischen Weisheit A und O.“
Ich warf ein: ,,Was ist es denn mit den Idealen?“
Er antwortete: ,,Gerade wer sie im Busen hegt, muß meine Lehre anerkennen. Nicht wahr, wer das Vollkommene ahnt, kann doch das Mittelmäßige nicht erstrebenswert finden?“
,,Gewiß nicht.“
„Nun also! Die Mittelmäßigkeit scheidet als Objekt unseres Strebens aus, und das Vollkommene, weil es nie erreicht werden kann, ebenfalls. Unerreichbarkeit ist der erlösende Schönheitsfehler des Ideals – gepriesen sei er! –, der von der Pflicht, diesem nachzujagen, befreit. In meiner Jugend wollte ich Musiker werden. Bald erkannte ich, daß ich da zum ewigen Dilettantismus verurteilt sei. Ich ließ die Musik. Es erging mir in gleicher Weise mit den anderen Künsten, mit fremden Sprachen, mit Geldverdienen, mit sportlichen Übungen, mit der Liebe, mit hunderterlei Dingen, die in summa das Leben ausmachen. Überall stieß ich auf die hohe Mauer, über die es kein Hinüberkommen gab.
Anfangs tat das weh, später hatte ich immer ein Gefühl großer Erleichterung, wenn die Mauer am Horizont auftauchte und mich legitimierte, umzukehren. Ich lernte, alles, was ich nicht verstand, und erst recht das, wozu mir jede verpflichtende Begabung fehlte, als Aktivposten meiner Glücksbilanz zu buchen. Hat dir noch niemals eine Frau, die dir von ferne reizvoll erschien, als sie näher kam, den behaglichen Schmerz, die angenehme Enttäuschung bereitet, daß sie es durchaus nicht war und du somit aller Plackereien als Wünschender, Werbender, die dir da drohten, mit einem Schlag ledig wurdest? Also auf diese Weise, das Unerreichbare als unerreichbar, das Erreichbare als zu gering ablehnend, wurde ich immer leichter, freier, heiterer.
Noch quälte mich Bildungshunger. Ein Besuch in der Bibliothek des Britischen Museums befreite mich von ihm. Ich sah die unendliche Fülle der Bücher – wer könnte auch nur einen Bruchteil des zu Lesenden lesen, des zu Lernenden lernen? – und las nie eine Zeile mehr. Den größten Sprung zur vollkommenen Freiheit aber machte ich, als mir die Sinnlosigkeit des Denkens aufging, als ich erkannte, daß der Weg zu den Geheimnissen des Seins unendlich und das geringste Stück von ihm, das auch in angestrengtester Mühe zu durchdenken wäre, eine, wie die Mathematiker das nennen, zu ,vernachlässigende Größe‘ ist. Seitdem denke ich auch nicht mehr, wie du ja meinen Reden schon entnommen haben wirst. Denken ist aller Übel Anfang und aller Zwecklosigkeit Inbegriff.
Ein Mensch, der denkt, der durch Denken geistig zunehmen, also aus sich heraus etwas in sich hineinkriegen will, erscheint mir wie einer, der sich mit seinem Speichel seinen Durst zu löschen versucht. Noch übler sind freilich Menschen dran, die ihr ganzes Leben lang unter dem schweren seelischen Durst stehen, Gott ,wohlgefällig‘ sein zu wollen. Rechtzeitig zu verspüren, daß man bei ihm unter allen
Umständen durchfallen muß – ein Großteil der Menschheit glaubt deshalb, wie du weißt, an Seelenwanderung, also gewissermaßen an ein Repetieren der Klasse unter einem andern Klassenvorstand –, erleichtert die Daseinslast.
Merke: Mißgeschick, dessen du nicht Herr werden kannst, mußt du dir umdeuten, so zwar, daß dein Müssen weise Fügung wird. Das lernt sich rasch. (Es ist ja alles, glaube mir, einem alten, erfahrenen Einsiedler, Dialektik!) In diesem Punkt kann dir jene Seelenkunde, die deine Ängste als geheime Wünsche deutet, ungemeine Dienste leisten.
Aller besonderen Ratschläge und Fingerzeige aber kannst du entbehren, wenn du immer des Worts eingedenk bist, das ein großer indischer Kollege einem Schüler zur Antwort gab, der ihn auch, wie du mich, mit der Frage: ,Wie werde ich glücklich?‘ bedrängte. Solcher Frage des Schülers erwiderte der indische Meister mit der wundervollen, das Problem wahrlich erledigenden Gegenfrage: ,Was, o Knabe, hat der Mensch schon davon, wenn er glücklich ist?‘“ Hier brach ich die Unterhaltung ab und gab dem Orakel eine Mark.
,,Die Taxe ist zwei fünfzig“, sagte es. Ich äußerte Erstaunen über solche Habgier eines wunschlosen, beruhigten Philosophen. ,,Geld“, sagte der Eremit, ,,ist eine Sache für sich und hat mit Philosophie nichts zu tun. Über derlei einfachste Anfangsgründe der Weltweisheit dachte ich dich wirklich schon hinaus, mein Sohn.“
Eremit: Einsiedler, der (z. B. aus religiösen oder idealistischen Gründen) alleine weitab von der Zivilisation lebt
ohne lange Faxen: hier: ohne langes Hin und Her
A und O: biblisch für Anfang und Ende
im Busen hegen: als Herzenswunsch haben
Plackereien: umgangssprachlich für Mühen
Repetieren der Klasse unter einem anderen Klassenvorstand: Wiederholung einer Klasse mit einem anderen Klassenlehrer
Dialektik: Methode der Philosophie, bei der durch Überwindung von Widersprüchen die Wahrheit formuliert wird, indem eine These und ihr Widerspruch zu einer höheren Erkenntnis vereint werden
Orakel: Wahrsager
Lösung Aufgabe 2: Interpretieren eines Kurzprosatextes
In Alfred Polgars Text "Der Eremit" aus dem Jahr 1922 begegnen wir einem Dialog zwischen dem Protagonisten, der den Eremiten aufsucht, und dem Weisen selbst. Der Protagonist stellt dem Eremiten die Frage, wie man glücklich werden könne. Die Antwort des Eremiten ist überraschend: Er sagt, dass man glücklich wird, indem man den Wunsch, glücklich zu sein, aufgibt.
Der Eremit argumentiert weiter, dass das Aufgeben dieses Wunsches das Einfachste von allem sei. Er vergleicht diesen Wunsch mit anderen unerreichbaren Zielen im Leben, wie der Wunsch, ewig zu leben, ein Weltmeister im Boxen zu sein oder eine Filmdiva zu werden. Er erklärt, dass vernünftige Menschen keine unerfüllbaren Wünsche hegen sollten, da dies nur zu Frustration führt.
Der Text betont die Idee, dass das Streben nach unerreichbaren Zielen und Idealen, sei es im Bereich der Kunst, Bildung oder anderen Aspekten des Lebens, zu Enttäuschung und Frustration führen kann. Der Eremit selbst hat viele solcher unerfüllbaren Wünsche erlebt und schließlich erkannt, dass es befreiend ist, diese Wünsche aufzugeben und sich von dem Druck zu befreien, nach ihnen zu streben.
Der Eremit argumentiert auch, dass Denken und Streben nach geistigem Wachstum ebenfalls sinnlos sind, da die Geheimnisse des Seins unendlich sind und das Denken zu keinen endgültigen Antworten führt. Er vergleicht das Denken mit dem Versuch, Durst mit Speichel zu löschen, und betont, dass das Streben nach Gott und spirituellem Wohlgefallen genauso fruchtlos ist.
Stattdessen schlägt der Eremit vor, dass der Mensch die Missgeschicke und Herausforderungen im Leben neu interpretieren sollte, um sie als weise Fügung zu sehen. Er betont, dass dies schnell gelernt werden kann und dass die Seelenkunde, die Ängste als geheime Wünsche deutet, dabei hilfreich sein kann.
Schließlich zitiert der Eremit einen indischen Meister, der auf die Frage nach dem Glück antwortete: "Was, o Knabe, hat der Mensch schon davon, wenn er glücklich ist?" Diese Frage soll das Problem des Glücks lösen, indem sie die Vorstellung des Glücks selbst infrage stellt.
Der Text endet humorvoll, als der Protagonist dem Eremiten Geld gibt, und der Eremit erklärt, dass Geld nichts mit Philosophie zu tun hat und er erwartet hatte, dass der Protagonist diese einfachsten Grundlagen der Weisheit bereits verstanden hätte.
Insgesamt zeigt der Text die Philosophie des Eremiten auf, die auf der Idee basiert, dass das Aufgeben unerfüllbarer Wünsche und das Neubewerten von Lebensumständen den Weg zum Glück ebnen können. Es betont die Einfachheit dieser Lebensweise und den Verzicht auf übermäßiges Streben und Denken.
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