Deutsch Abitur Niedersachsen EA Erörterung

a) Stellen Sie den Argumentationsgang des Textes Die Metastasen des Hasses dar und erläutern Sie die Intention des Textes.

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    Abiturprüfung Niedersachsen 2023 EA Aufgabe 2: Erörterung pragmatischer Texte

    40 %

    b) Erörtern Sie die vom Autor vorgeschlagenen Möglichkeiten des Umgangs mit Hassrede. Beziehen Sie die im Text entfalteten Perspektiven auf Hassrede ein.

    60 %

    M1: Paul Sailer-Wlasits – Die Metastasen des Hasses (2019)

    Die Versprachlichung von Hass ist kein neues Phänomen. Wie epidemisch sich Hassreden verbreiten, hingegen schon. Was läge daher näher, als einen Prozentsatz jener staatlichen Mittel, die weltweit für den digitalen Wandel bereitstehen, in die Humanisierung des digitalen sprachlichen Miteinanders zu investieren? Anstatt die Hasssprache aber systematisch und global zurückzudrängen, werden mit unzulänglichen Ressourcen nationale und regionale Scharmützel ausgefochten. Diffuse Plattformregeln samt überforderten Moderatorinnen sperren auf Social-MediaPlattformen Satire-Accounts, während Menschenfeinde weitersenden dürfen.

    Politikerinnen werden aufs Übelste beleidigt – und Gerichte bewerten das als legitime Meinungsäußerung. Und hat das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland eigentlich irgendetwas Substanzielles durchgesetzt? Hassreden waren und sind sprachliche Schatten der menschlichen Kulturgeschichte. Erst vor wenigen Jahrzehnten, als der Zivilisationsprozess bereits weit fortgeschritten schien, geriet die Sprache in den monströsen Würgegriff von Totalitarismen. Der schrecklichsten aller Menschheitskatastrophen ging eine Deformation der Sprache zu hassverzerrtem, rassistischem Wortgut voran.

    Die verrohte Diktion der NS-Diktatur zerschlug die Sprache des Deutschen Idealismus. Verbale Umcodierungen und Hasssprache durchsetzten den Alltag. Auf derartiger sprachlicher Kontamination, auf solchen toxischen Resten von ethnisch und religiös herabwürdigendem Vokabular gründet die Hassrede unserer Tage. Die Sprache des Hasses bewirkt einen Zusammenbruch der Symmetrie bestehender Verhältnisse der Anerkennung. Sprachliche Grenzen werden bedenkenlos übertreten, inhumane

    Sprachentgleisungen destabilisieren den Diskurs, es triumphiert der rhetorische Effekt.

    Und: Hasssprache metastasiert und richtet sich – etwa aus rechtsextremer Sicht – nicht nur gegen jene Menschen, die angeblich das Abendland und die je eigene monokulturell definierte Nation von außen bedrohen, sondern auch gegen jene, die sich als

    „Verräter am Volk“ für die Schutzsuchenden engagieren. Hassreden sind bei Weitem nicht der einzige Grund für die Ereignisse in Chemnitz, in Halle oder den Tod von Walter Lübcke. Doch es wäre ebenso naiv zu behaupten, ein von zahllosen sprachlichen Übertretungen geprägter Alltag hätte keine vorbereitende Wirkung für Handlungen, in denen die Tat das Wort überschreitet.

    Dort, wo Sprachhandlungen beginnen, zur Verletzungsgefahr durch Sprache zu werden, brechen Konkurrenzverhältnisse auf zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Gebot des Schutzes der Menschenwürde. Ethik und Moral gründen auf der Anerkennung zwischenmenschlicher Grenzen. Das gegenwärtige Problem: Wie verständigt man sich noch über die Grenzen, wenn selbst die US-Administration Social Media als Massenverbreitungswaffe nutzt? Und wer soll dann noch über die Einhaltung der Grenze wachen?

    Anstatt das First Amendment einem sanften juristischen Facelifting zu unterziehen, sind die USA und der größte Teil ihrer Staatsbürger stolz auf ihren in die Jahre gekommenen Verfassungszusatz aus 1791, in welchem die freie Rede vor Einschränkungen geschützt wird. Von einigen Ausnahmen, wie etwa der direkten sprachlichen Bedrohung anderer abgesehen, besitzt Free Speech in den USA eine nahezu unumschränkte Sonderstellung. Eine aus der Perspektive des europäischen Kultur- und Geschichtsverständnisses kaum verdauliche Attitüde. Unter diesen Voraussetzungen werden sprachliche Sonderdeformationen möglich, sogar offene politische Lügen können jederzeit unter dem Deckmantel der freien Rede zu „Diskussionsbeiträgen“ und „Meinungen“ emporgehoben werden.

    Jedwede Extremposition kann als „demokratische Partizipation“ bedenkenlos in den Diskurs infiltriert werden – und längst gibt es auch in Europa populistische Kräfte, die vorgeschobene Bedenken, hinter die USA freiheitlich zurückzufallen, nutzen, um Unsagbares

    sag- und sendbar zu machen. Dabei ist auch zu beobachten, wie schleichend das Gift des Verbalradikalismus wirkt: Bereits bevor die Sprache rhetorisch umschlägt und in veränderter Wort- und Satzsemantik sichtbar wird, also in offen rassistischer, herabwürdigender oder gewaltlegitimierender Sprache, existiert bereits die Intention eines sprachlichen Missbrauchs.

    Überall dort, wo Sprache den Modus des Allgemeinen verlässt und in einen „Modus der Anrede“ (Judith Butler) wechselt, kann Hasssprache entstehen. Sobald der Sprechende beginnt, sein Gegenüber zu bestimmen und auf bestimmte Identitäten festzulegen, übertritt er eine bedeutsame Grenze. Letztlich fehlt nur noch die explizite Herabwürdigung und das Definieren des Anderen als Gefahr für das je Eigene, damit definitiv Verletzungsgefahr besteht – sei es durch Sprache (zunächst) und physisch (in der Folge).

    Der Übergang vom Wort zur Tat bleibt jedoch ein qualitativer Sprung. Dieser ist nicht aus einer einzigen Ursache herleitbar, sondern entspricht Vorgängen von sich gegenseitig verstärkenden Sprechakten, kumulativen Wirkungen von Sprachhandlungen, aus semantischen Auf- und Überladungen und aus daraus ableitbaren Handlungsanweisungen. Der latente Hass wird durch die Sprache aufgeweckt, er wird manifest und immer weiter gesteigert bis zu seiner Entladung, denn eines kann die Hasssprache ja eben nicht: sich selbst mäßigen und disziplinieren.

    Langfristig ist die Investition in politische Bildung die wirksamste und günstigste Präventivmaßnahme gegen Hassrede – allerdings jene Form der geistigen Festigung, die von humanistischen Werten durchdrungen ist und weder der verbalen Ausgrenzung noch der Perfidie rhetorischer Entgrenzung dient. Mittelfristig wären behutsame gesetzliche Regelungen und deren Kontrolle wünschenswert. Aber Vorsicht: Das Risiko der Beschädigung von Meinungsfreiheit ist beträchtlich, wenn staatliche Organe darüber entscheiden, ob Hasssprache vorliegt, oder auch, ob (etwa von einer Social-Media-Plattform) systematisch Hass und Lügen verbreitet werden.

    Entscheiden Rechtsprechende dann basierend auf ihrer subjektiven Lesetradition und Bildung oder etwa auf der Grundlage von Checklisten darüber, was Hassrede ist? Und was davon wäre uns künftig lieber? Überhaupt: Können einzelne Richter darüber entscheiden, wie verletzend verbale Aggression auf eine konkrete Person (mit ihrer individuellen Vorgeschichte) in einer bestimmten Situation gewirkt hat? Oder bedarf es dafür mindestens einer Hass-Jury samt Sachverständigen?

    Kurzfristig wäre die Vorbildfunktion von Politikern, Medien und all jenen Menschen von eminenter Bedeutung, die als gesellschaftliche Multiplikatoren wirken. Vorbildwirkung ist im Unterschied zu staatlicher Repression kostenlos. Nicht erst die nächste Legislaturperiode, sondern bereits die nächste Parlamentsrede und der nächste Wahlkampf bieten Gelegenheit zu verbaler Deeskalation im Sinne politischer Sprachkultur. Gleichzeitig weist dieser Vorschlag auch schon auf eine Schwäche der Herangehensweise: Es macht Hassrede ja gerade so attraktiv für bestimmte Charaktere, dass sie – anders als zurückgenommene Sprache – Aufmerksamkeit erzeugt. Die kultivierte Gegenrede ist stets argumentierend, begründend und erklärend, daher ist und bleibt sie rhetorisch-wirkungspsychologisch im Nachteil gegenüber der kurzen, scharfen, schneidenden Hassrede.

    Gerade weil Hasssprache aufgrund vielfältigster Ursachen entsteht, greifen eindimensionale Lösungsansätze – wie bei allen komplexen Problemen – zu kurz. Weder die Strafrechtsverschärfung allein noch einzelne Präventivmaßnahmen werden das

    vielgestaltige Phänomen unter Kontrolle bringen. Nur das Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Maßnahmen kann, wie ein komplementärer Therapieansatz, die Hassrede in ihrer Gesamtheit erfassen, fixieren und allmählich auf ein sozial erträgliches Maß eindämmen. Das klingt sperrig und wird anstrengend – denn die Hassrede wird sich mit Verweis auf die (falsch verstandene) Freiheit gegen jede Maßnahme zu immunisieren versuchen. Doch ohne alle erdenklichen Schritte und Manöver entfaltet sie schon bald ihr ganzes zerstörerisches Potenzial.

    Metastasen: Tumore, die sich bilden, indem sich Krebszellen vom ursprünglichen Tumor ablösen.

    Netzwerkdurchsetzungsgesetz: seit 2017 gültiges Gesetz, das darauf abzielt, Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte (z. B. Beleidigung, Bedrohung, Verleumdung) auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer zu bekämpfen.

    Deutscher Idealismus: Periode innerhalb der Problem- und Theoriengeschichte der klassischen Philosophie zwischen Kant und Hegel um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert

    Ereignisse in Chemnitz: gewalttätige, rechtsradikal orientierte Ausschreitungen am Rande des Chemnitzer Stadtfestes im Sommer 2018

    Ereignis in Halle: rechtsextremistischer Anschlag auf die Synagoge in Halle am 09. 10. 2019

    Walter Lübcke: hessischer Regierungspräsident, der am 01.06.2019 durch einen Rechtsextremisten ermordet wurde

    wenn selbst die US-Administration […] nutzt: Anspielung auf die vom ehemaligen US-Präsidenten Donald John Trump (2017–2021) praktizierte extensive und zugleich aggressive Nutzung der sozialen Medien

    First Amendment: Erster Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika; der 1791 verabschiedete Artikel verbietet dem Kongress, Gesetze zu verabschieden, die die Rede-, Religions-, Presse-, Versammlungsfreiheit oder das Petitionsrecht einschränken.

    Judith Butler: US-amerikanische Philosophin, die den Zusammenhang von Sprache und Gewalt unter dem Titel Hass spricht (1997) untersuchte.

    Niedersachsen EA: Lösung Teilaufgabe 1 von 2: Erörterung pragmatischer Texte

    Der Text "Die Metastasen des Hasses" von Paul Sailer-Wlasits thematisiert die Verschärfung und Verbreitung von Hassreden in der digitalen Welt. Der Autor argumentiert, dass die sprachliche Verbreitung von Hass keine neue Erscheinung ist, aber die Ausbreitung von Hassreden in digitalen Medien ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat. Er plädiert dafür, einen Teil der staatlichen Mittel, die für den digitalen Wandel bereitstehen, in die Humanisierung des digitalen sprachlichen Miteinanders zu investieren.

    Sailer-Wlasits kritisiert, dass trotz der weitverbreiteten Hasssprache auf digitalen Plattformen unzureichende Ressourcen für die Bekämpfung dieses Phänomens eingesetzt werden. Er weist auf die Inkonsequenz bei der Umsetzung von Plattformregeln hin, bei denen Satire-Accounts gesperrt werden, während Menschenfeinde weiterhin Hass verbreiten können. Politikerinnen werden beleidigt, und Gerichte werten dies als legitime Meinungsäußerung.

    Der Autor weist darauf hin, dass die Hassrede eine lange Geschichte hat, die bis in die NS-Diktatur zurückreicht. Er argumentiert, dass die verrohte Diktion dieser Zeit die Basis für die Hassrede in der heutigen Zeit gelegt hat. Hassrede führt zu einem Zusammenbruch der Symmetrie in der Anerkennung und destabilisiert den öffentlichen Diskurs.

    Sailer-Wlasits betont, dass Hasssprache nicht allein verantwortlich für gewalttätige Ereignisse ist, aber sie kann einen Nährboden für solche Handlungen schaffen. Er argumentiert, dass die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und dem Schutz der Menschenwürde herausfordernd ist und ethische Fragen aufwirft. Die Frage, wie man sich über diese Grenzen verständigen kann, wird in einer Zeit, in der selbst die US-Administration Social Media zur Verbreitung von Hass nutzt, immer komplexer.

    Der Autor kritisiert auch die amerikanische Haltung zur Meinungsfreiheit, die Hassrede weitgehend schützt, und betont, dass diese Haltung in Europa schwer verständlich ist. Er warnt vor den Auswirkungen des verbalen Radikalismus und wie dieser schleichend die Sprache vergiftet, bevor er sich in offener Hassrede manifestiert.

    Sailer-Wlasits erkennt, dass der Übergang von Worten zur Tat ein qualitativer Sprung ist, aber dieser wird durch sich gegenseitig verstärkende Sprechakte und kumulative Wirkungen von Sprachhandlungen vorbereitet. Er argumentiert, dass langfristige politische Bildung, behutsame gesetzliche Regelungen und die Vorbildwirkung von Politikern, Medien und Multiplikatoren notwendig sind, um Hassrede einzudämmen.

    Der Autor schließt mit der Feststellung, dass einfache Lösungen nicht ausreichen und ein umfassender Ansatz erforderlich ist, um Hassrede in den Griff zu bekommen. Er betont die Notwendigkeit, alle verfügbaren Maßnahmen zu nutzen, da die Hassrede sonst ihr zerstörerisches Potenzial entfalten wird.

    Die Intention des Textes besteht darin, auf die zunehmende Verbreitung von Hassreden in der digitalen Welt aufmerksam zu machen und die Notwendigkeit von Maßnahmen dagegen zu betonen. Der Autor möchte sensibilisieren und dazu aufrufen, Hassrede ernsthaft zu bekämpfen, indem sowohl langfristige Bildung, als auch mittel- und kurzfristige Maßnahmen ergriffen werden. Er warnt vor den Folgen des verbalen Radikalismus und betont die Komplexität des Problems, das eine umfassende Herangehensweise erfordert. Der Text plädiert für einen verantwortungsvollen Umgang mit Sprache und eine Bewusstseinsbildung für die Folgen von Hassrede in der digitalen Ära.

    Niedersachsen EA: Lösung Teilaufgabe 2 von 2: Erörterung pragmatischer Texte

    Der Autor Paul Sailer-Wlasits schlägt in seinem Text "Die Metastasen des Hasses" verschiedene Möglichkeiten vor, wie mit Hassrede umgegangen werden kann, wobei diese Vorschläge auf den im Text entfalteten Perspektiven auf Hassrede basieren.

    Zunächst betont der Autor die Bedeutung der politischen Bildung, die von humanistischen Werten durchdrungen sein sollte. Diese langfristige Maßnahme zielt darauf ab, die Werte des respektvollen Miteinanders zu fördern und die Menschen für die Konsequenzen von Hassrede zu sensibilisieren. Eine Bildung, die auf Toleranz und Anerkennung basiert, könnte langfristig dazu beitragen, Hassrede zu reduzieren.

    Des Weiteren schlägt Sailer-Wlasits vor, behutsame gesetzliche Regelungen zur Bekämpfung von Hassrede zu implementieren. Dies könnte mittelfristig dazu beitragen, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die Hassrede verbreiten. Allerdings warnt er auch vor einer zu starken Regulierung, die die Meinungsfreiheit beeinträchtigen könnte. Hier ist ein sensibler Ausgleich notwendig.

    Die Vorbildwirkung von Politikern, Medien und gesellschaftlichen Multiplikatoren wird als kurzfristige Maßnahme betont. Diese Einflussgruppen könnten zur Deeskalation im politischen Diskurs beitragen, indem sie sich auf eine respektvolle Sprache und einen fairen Umgang miteinander besinnen. Die Vorbildwirkung kann ohne zusätzliche Kosten sofort wirksam werden.

    Der Autor hebt auch die Bedeutung der kultivierten Gegenrede hervor. Diese Art der Kommunikation basiert auf Vernunft und Empathie und steht im Gegensatz zur Hassrede, die auf Provokation, Abwertung und Spaltung abzielt. Indem man auf kultivierte Gegenrede setzt, kann man versuchen, den rhetorischen Effekt der Hassrede zu kontern.

    Schließlich betont Sailer-Wlasits die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes im Umgang mit Hassrede. Er erkennt an, dass Hassrede ein vielschichtiges Problem ist, das nicht durch eine einzige Maßnahme behoben werden kann. Ein ganzheitlicher Ansatz erfordert das Zusammenwirken verschiedener Maßnahmen auf langfristiger, mittelfristiger und kurzfristiger Ebene, um die Hassrede in ihrer Gesamtheit zu erfassen und auf ein sozial erträgliches Maß einzudämmen.

    Insgesamt betont der Autor die Komplexität des Problems der Hassrede und die Notwendigkeit einer umfassenden Herangehensweise, die verschiedene Aspekte berücksichtigt. Die vorgeschlagenen Möglichkeiten des Umgangs mit Hassrede zielen darauf ab, sowohl präventive als auch reaktive Maßnahmen zu ergreifen und gleichzeitig die Meinungsfreiheit zu wahren, ohne die Gefahren von Hassrede zu ignorieren.

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