In der Erzählung "Abschied von Sidonie" von Erich Hackl, die 1989 erschien, wird das Schicksal eines Roma-Mädchens gezeigt, das mit zehn Jahren im Konzentrationslager Auschwitz starb. Sidonie wurde als Säugling von ihrer Mutter vor einem Krankenhaus ausgesetzt und von einer Pflegefamilie aufgenommen. Diese kümmerte sich aufopferungsvoll um das Mädchen und beschützte es vor Anfeindungen anderer, jedoch mussten sie Sidonie im Alter von 10 Jahren an die leibliche Mutter zurückschicken, was dramatische Folgen für das Mädchen hatte.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
Der Nationalsozialismus wird oft synonym verwendet mit dem Zweiten Weltkrieg und Adolf Hitler, dem Reichspräsidenten unter der nationalsozialistischen Regierung. Jedoch handelt es sich hierbei um eine politische Bewegung, deren Weltanschauung radikal, rassistisch, antisemitisch und antidemokratisch geprägt ist. Besonders aktiv war diese Bewegung in der Zeit von 1933 bis 1945, nach der Machtergreifung Adolf Hitlers bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieser Abschnitt wird auch als NS-Diktatur bezeichnet.
Im Zweiten Weltkrieg wurden Millionen von Menschen systematisch in Konzentrationslagern ermordet, unter anderem Roma und Sinti.
Mehr zu den historischen Hintergründen, die für Hackls Erzählung "Abschied von Sidonie" von Bedeutung sind, findest Du im Abschnitt "Abschnitt von Sidonie" – Historischer Hintergrund.
"Abschied von Sidonie" – Zusammenfassung
Die dokumentarische Erzählung "Abschied von Sidonie" basiert auf der wahren Schicksalsgeschichte des Roma-Mädchens Sidonie Adlersburg. Sidonie wurde als Findelkind 1933 im österreichischen Steyr von einer Pflegefamilie aufgenommen und bis 1943 liebevoll als eigenes Kind aufzogen. Als die Behörden Sidonies leibliche Mutter fanden, wurde das Mädchen gewaltsam von ihrer Pflegefamilie getrennt und in ein Sammellager geschickt. Gemeinsam mit ihrer leiblichen Familie wurde sie ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und starb dort im Alter von nur zehn Jahren.
Roma bilden die größte ethnische Minderheit Europas. Roma sind seit mindestens 700 Jahren in Europa beheimatet. Sie sind in ihren jeweiligen Heimatländern bei unterschiedlicher Größenordnung stets Minderheiten.
Roma ist ein Oberbegriff und steht für eine Reihe von Bevölkerungsgruppen, deren Sprache das "indoarische Romanes" ist. Ursprünglich stammten Roma vermutlich vom indischen Subkontinent. In der Bundesrepublik Deutschland wurde in den frühen 1980er-Jahren von Interessenverbänden Sinti und Roma als Wortpaar eingeführt, zur Bezeichnung der Gesamtminderheit der Roma und ihrer zahlreichen Untergruppen.
"Abschied von Sidonie" – Inhaltsangabe
Die Erzählung von Erich Hackl "Abschied von Sidonie" ist in 11 Kapitel gegliedert. Um Dir einen kleinen Einblick in das Buch zu ermöglichen, kannst Du Dir folgende Kapitelzusammenfassung anschauen.
Kapitel 1
Am 18. August 1933 findet der Pförtner des Krankenhauses in Steyr einen ausgesetzten Säugling. Wegen seiner dunklen Hautfarbe wird das Kind für ein Roma-Mädchen gehalten. Einige Tage später fragt eine Frau, die sich als Anna Adlersburg ausgibt, nach ihrer Tochter Sidonie. Sie ist mittellos und bittet den Verwalter des Krankenhauses, ihr krankes Kind zu behandeln. Ihr Versprechen, das Mädchen Mitte September abzuholen, hält sie nicht.
Das Jugendamt sucht nach der leiblichen Mutter, findet jedoch nichts. Deshalb wird Sidonie in eine Pflegefamilie gegeben. Jedoch wird sie aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe vom Mann der Familie zurückgebracht.
Kapitel 2
In einer Rückblende wird die Vergangenheit von Hans Breirather gezeigt. Er wuchs in Armut auf und diente im Ersten Weltkrieg. Nach seiner Rückkehr engagierte er sich bei den Sozialdemokraten und verliebte sich in Josefa. Die beiden heirateten und bekamen ihren Sohn Manfred.
Da Josefa keine weiteren Kinder bekommen kann, will das Ehepaar ein Kind adoptieren. Als Josefa vom Jugendamt erfährt, dass ein Säugling auf Pflegeeltern wartet, fährt sie zum Krankenhaus und nimmt Sidonie mit. Josefa und Hans sorgen sich um Sidonie, die an der englischen Krankheit, auch Rachitis genannt, leidet. Aber durch die gute Pflege der Eltern wird Sidonie wieder gesund.
Bei der englischen Krankheit leiden die betroffenen Kinder aufgrund des Vitamin-D-Mangels unter einer Störung des Knochenstoffwechsels, die zu einer ungenügenden sogenannten Mineralisation der Knochen führt. Im Verlauf der Krankheit verändern sich zuerst die Schädelknochen, im schweren Verlauf können im Bereich des Brustbeins sowie der Arme und Beine, Veränderungen auftreten.
Die politische Situation in Österreich spitzt sich zu, als unter dem damaligen Bundeskanzler eine Diktatur entsteht. Hans wird zum Ortsgruppenleiter des verbotenen Republikanischen Schutzbundes ernannt. Doch dann werden beim Truppenführer Waffen entdeckt, woraufhin Hans verhaftet wird.
Der Republikanische Schutzbund war eine paramilitärische Organisation der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, also eine Einheit, die nicht zu den Streitkräften eines Landes gehören, aber dennoch militärisch ausgerüstet sind.
Kapitel 3
Als Hans am 12. Februar 1934 seine Strafe im Gefängnis antreten will, erfährt er von einem Aufstand in Steyr. Er ist entschlossen, seinen Kameraden zu helfen. Als er und zwei weitere Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes jedoch in der Stadt ankommen, wurde der Aufstand bereits niedergeschlagen.
Hans wird zu 18 Monaten Haft verurteilt. Währenddessen wird Josefa von Anhängern der Heimwehr überfallen, die auf der Suche nach Waffen sind. Die Männer nehmen die Mitgliedsbeiträge des Schutzbundes sowie Hans' Sparbuch mit. Josefa steht mittellos da und muss die Kinder ohne das Einkommen ihres Mannes durchbringen. Zudem wird sie von der Kirche bedrängt, sich kirchlich trauen zu lassen. Sie will nicht unter Zwang heiraten, entschließt sich aber dazu, um finanzielle Unterstützung zu erhalten.
Die Heimwehr bezeichnet paramilitärische "Selbstschutzverbände" in Österreich in der Zeit zischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, deren Aufgabe es war, sozialistische Bestrebungen zu bekämpfen.
Kapitel 4
Im März 1938 wird Hans vorzeitig aus der Haft entlassen. Er findet in den Steyr-Werken, in denen er zuvor gearbeitet hatte, erneut eine Anstellung. Seine Familie ist während der Zeit seiner Haft größer geworden, denn Josefa hat ein weiteres Pflegekind, Hilde, aufgenommen.
Eine Fürsorgerin kommt regelmäßig, um zu schauen, wie es Sidonie geht. Sie warnt die Familie vor umherziehenden "Zigeunern". Josefa, Sidonies Freunde und sämtliche Nachbarsleute passen auf das Mädchen auf, das alle mögen. Die Behörde hat unterdessen Anna Adlersburg gefunden, doch diese bestreitet, Sidonies Mutter zu sein und verweist auf ihre Stiefschwester Maria Berger. Da die Situation noch immer ungeklärt ist, dürfen Hans und Josefa Sidonie nicht adoptieren.
Das Wort "Zigeuner" ist ein Begriff, mit der die Mehrheitsgesellschaft die Sinti und Roma bezeichnet, die diesen Begriff als diskriminierend erachten. Da dieser abwertende Begriff in "Abschied von Sidonie" verwendet wird, wird er in dieser Erklärung in Anführungszeichen geschrieben.
Kapitel 5
1938 wird Österreich in das Deutsche Reich aufgenommen. Hans und Josefa bekommen neue Nachbarn aus dem Sudetenland, die ihre Nachbarn bespitzeln und sich sehr abfällig über Sidonie äußern. Der ehemals sozialistische Ort ist nun in der Hand der Nationalsozialisten und bringt einige Veränderungen mit sich. So wird hinter Hans' Haus ein Zwangsarbeitslager errichtet.
Als Sudetenland wurde nach 1918 ein nicht zusammenhängendes Gebiet an den Grenzen der damaligen Tschechoslowakei und Österreich bezeichnet, in dem überwiegend Deutsche lebten.
Hans sucht in Wien Kontakt zu Widerstandskämpfern. Unterdessen wird Josefa aufgrund einer harmlosen Bemerkung angezeigt und von der Gestapo verhört. Der Bürgermeister setzt sich für sie ein und die Untersuchung wird eingestellt. Genau wie Hans leistet Josefa passiv Widerstand gegen die Nationalsozialisten und steckt polnischen Zwangsarbeitern Brot und Tee zu.
Kapitel 6
Gemeinsam mit Hilde wird Sindonie 1939 eingeschult. Sie lernt fleißig und verehrt ihre Lehrerin, muss jedoch die erste Klasse wiederholen. Als sie in der Schule einen Aufsatz über ihre Familie vorliest, weist ein Mitschüler sie darauf hin, dass sie nur ein Pflegekind sei und beschimpft sie als "Zigeunerin". Auch immer mehr Nachbarsleute äußern sich abfällig und bespucken das Mädchen.
Josefa ist besorgt um die Sicherheit ihrer Tochter. Eine Freundin organisiert daraufhin das christliche Fest der Firmung für Sidonie und übernimmt die Patenschaft.
Die Firmung ist in der katholischen Kirche die Fortführung der Taufe und ein Bestandteil der kirchlichen Initiation.
Kapitel 7
Am 9. März 1943 erfahren Josefa und Hans vom Jugendamt, dass Sidonie zu ihrer leiblichen Mutter muss. Josefa und Hans wollen Sidonie nicht hergeben, denn sie befürchten, dass das Leben ihrer Tochter in Gefahr ist. Josefa bittet die Fürsorgerin um Hilfe, diese verweist jedoch auf ihre Vorgesetzten. Die Jugendamtsleiterin weist alle Anfragen ab und sagt, die Anordnung käme von höchster Instanz. Das jedoch ist eine Lüge, denn sie darf nach ihrem Ermessen handeln und hat sich aktiv dafür entschieden, Sidonie von ihrer Familie zu trennen.
Kapitel 8
Freunde und Verwandte bereiten am Tag vor Sidonies Abreise einen wundervollen Abschied mit Geschenken vor. Für Sidonie, die das Weinen der Erwachsenen nicht bemerkt, fühlt sich alles wie ein großes Abenteuer an. Sie freut sich darauf, ihre leibliche Mutter kennenzulernen, ist aber auch traurig, von ihrer Pflegefamilie getrennt zu sein.
Als Josefa Sidonie am Bahnhof an die Fürsorgerin übergibt, will Sidonie ihre Mutter nicht loslassen und weint. Hier äußert sich der Chronist zum ersten Mal mit einem persönlichen Kommentar. Er teilt seine Wut über die Ereignisse mit.
Ein Chronist ist der Verfasser einer Chronik. In einer Chronik werden geschichtliche Ereignisse in Prosaform dargestellt.
Kapitel 9
In einer Rückblende wird der Ort Hopfgarten vorgestellt, in dem die Roma der Gegend in einer Barackensiedlung untergebracht sind. Sie dürfen diesen Ort nicht mehr verlassen.
Auf dem Gemeindeamt des Ortes soll Maria Berger ihre Tochter in Empfang nehmen, doch Sidonie klammert sich an der Fürsorgerin fest. Eine Verwandte beruhigt das Mädchen. Am nächsten Tag werden die Roma in Lastwagen weggebracht und einige Tage später berichtet ein ehemaliger Genosse von Hans, er hätte Sidonie in einem der Waggons eines Güterzuges am Bahnhof von Linz gesehen.
Kapitel 10
Nach Kriegsende tritt Hans das Bürgermeisteramt an und findet heraus, dass Sidonie in Auschwitz an Typhus gestorben ist. Josefa und Hans trauern um Sidonie und möchten eine Gedenktafel für ihre Tochter errichten, doch egal, was sie versuchen, sie können es nicht umsetzen. Die Einwohner des Ortes tun so, als habe es das Mädchen nie gegeben.
Als Hans 1980 stirbt, lassen Josefa und ihre Kinder auch Sidonies Namen auf den Grabstein eingravieren. Hans' Sohn Manfred versucht jahrelang, das Andenken an Sidonie zu bewahren, doch erst dem Chronisten gelingt es, eine Gedenktafel an einem Gemeindehaus anbringen zu lassen. Josefa stirbt im Alter von 88 Jahren und hat sich bis an ihr Lebensende die Schuld an Sidonies Schicksal gegeben.
Kapitel 11
In einem Café trifft sich der Chronist mit Joschi Adlersburg, dem leiblichen Bruder von Sidonie. Er war gemeinsam mit seiner Schwester in Auschwitz und erzählt, das Mädchen sei nicht an Typhus gestorben, sondern aufgrund von seelischer Kränkung. Sie hätte immer wieder nach der Pflegefamilie gefragt und viel geweint, ansonsten aber nicht gesprochen. Außerdem hätte sie nichts gegessen und ihren Lebenswillen verloren. Eines Morgens habe sie tot auf ihrer Pritsche gelegen.
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war das größte deutsche Vernichtungslager. Es wurde 1941 drei Kilometer entfernt vom Stammlager Auschwitz auf dem Gebiet der Gemeinde Brzezinka, zu deutsch Birkenau, errichtet.
Der Chronist fasst Sidonies Schicksal nochmals zusammen und vergleicht sie mit einer anderen Geschichte, die ähnlich begann, aber einen anderen Ausgang hatte. In einer anderen Gemeinde Österreichs lebte das Roma-Mädchen Margit ebenfalls in einer Pflegefamilie, konnte dort jedoch anders als Sidonie bleiben, weil das Dorf Zivilcourage bewiesen und sich für das Kind eingesetzt hatte.
Zivilcourage ist eine Bezeichnung, die verwendet wird, wenn Personen sich für die Menschenrechte und den Schutz der Menschenwürde einsetzen. Zivilcourage bedeutet, humanen oder sozialen Mut zu beweisen, indem in Konflikte eingegriffen wird.
"Abschied von Sidonie" – Charakterisierung
Die wichtigsten Personen in der Erzählung "Abschied von Sidonie" sind Sidonie und ihre Familie. Als wichtige Nebenfiguren treten zudem die Fürsorgerin des Jugendamtes und deren Vorgesetzte auf. Im Folgenden werden die Charaktere der Figuren kurz dargestellt.
Sidonie
- ist unbeschwert und offen
- ist hilfsbereit und freundlich
- reagiert auf Ablehnung schlagfertig
- hat viel Fantasie und ist in der Schule oft unkonzentriert
- ist ehrgeizig, lernt aber schlecht und muss die erste Klasse wiederholen
- hat einen starken Willen
- hat dunkle Haut und blauschwarz schimmernde Haare
Josefa Breirather
- Sidonies Pflegemutter
- stammt aus einfachen Verhältnissen
- hat keine Ausbildung, arbeitet in der Landwirtschaft und später als Köchin
- ist selbstbewusst und lässt sich nicht verunsichern
- handelt pragmatisch und konsequent
- kümmert sich aufopferungsvoll um Sidonie
- ist loyal und risikobereit, unterstützt ihren Mann bei dessen Arbeit im Schutzbund
- ist durchsetzungsfähig und furchtlos, ernährt ihre Familie trotz des fehlenden Gehalts ihres Mannes
- ist hilfsbereit und selbstlos, hilft Benachteiligten und Zwangsarbeitern
Hans Breirather
- Pflegevater von Sidonie
- stammt aus armen Verhältnissen
- muss bereits als Kind als Stalljunge arbeiten, um seine Familie zu unterstützen
- hat keine Ausbildung absolviert, da er nur vier Jahre zur Schule ging
- ist Schleifer und arbeitet in den Seyd-Werken
- war als Soldat im Ersten Weltkrieg, gerät dort in Kriegsgefangenschaft
- tritt nach dem Krieg aus der Kirche aus
- ist Sozialdemokrat und leitet den Republikanischen Schutzbund
- ist ruhig und geduldig, kämpft aber auch für seine Überzeugungen und seine Familie
- kämpft um Sidonie, die er wie sein leibliches Kind behandelt
Manfred
- leiblicher Sohn von Josefa und Manfred, älterer Stiefbruder von Sidonie
- spielt Geige
- ist aufgeschlossen und liebevoll
- wird Polizist und will an Sidonies Schicksal erinnern
Hilde
- ebenfalls Pflegekind und Sidonies Stiefschwester
- ist vier Monate älter als Sidonie
- hat Angst vor Männern, ihrem Ziehvater vertraut sie aber nach einiger Zeit
- versteht sich sehr gut mit Sidonie, die beiden spielen zusammen und werden gemeinsam eingeschult
Fürsorgerin
- besucht Sidonie zweimal im Jahr, um sich davon zu überzeugen, dass es dem Mädchen gutgeht
- ist nicht ehrlich und verhält sich Josefa gegenüber abweisend und gefühlskalt
- hat ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht für Sidonies Verbleib in der Pflegefamilie eingesetzt hat
- ist dem Regime gegenüber blind gehorsam und sich keiner Schuld für ihre Taten bewusst
Jugendamtsleiterin
- will keine Verantwortung übernehmen
- hält sich genau an die Vorschriften, Pflichterfüllung steht für sie an erster Stelle
- ist eine typische Mitläuferin in der Nazi-Zeit
- ist unerbittlich und beruft sich auf Befehle
"Abschied von Sidonie" – Analyse
In der Analyse der dokumentarischen Erzählung "Abschied von Sidonie" werden verschiedene Aspekte des Aufbaus und der Sprache betrachtet. Neben der Chronologie der Kapitel und der Betrachtung von Ort und Zeit wird auch ein Blick auf die Erzählweise geworfen. Außerdem wird auf den Schreibstil der Erzählung und die Verwendung von österreichischen Redewendungen eingegangen.
"Abschied von Sidonie" – Aufbau
Die Erzählung "Abschied von Sidonie" wurde 1989 veröffentlicht und erzählt von Sidonies kurzem Lebensweg in elf Kapiteln. Diese sind chronologisch angeordnet und orientieren sich an den historischen Ereignissen Österreichs zwischen 1933 und 1943, der Zeit, in der Sidonie lebte. Sidonies Schicksal wird im Kontext der politischen Ereignisse der Zeit erzählt.
Die Geschichte spielt an Originalschauplätzen in Oberösterreich, vor allem in den Gemeinden Letten, Sierning und Steyr. Die erzählte Zeit umfasst insgesamt 55 Jahre. Sie beginnt mit dem Auffinden des Säuglings vor dem Krankenhaus in Steyr und endet mit dem Gespräch des Chronisten mit dem leiblichen Bruder Joshi Adlersburg und reicht damit weit über Sidonies Tod hinaus. Die Erzählzeit ist deutlich kürzer. Durch diese Zeitraffung wird die Spannung erhöht, da in kurzer Zeit sehr viele Dinge geschehen.
Die Erzählung ist in der auktorialen Erzählhaltung geschildert. Der Erzähler betrachtet das Geschehen von außen und erzählt nüchtern und ohne die Handlung zu kommentieren. Damit will Hackl verdeutlichen, dass es keine fiktive Geschichte ist. Teils wird der Erzählung dokumentarisches Material beigefügt, etwa Behördenbriefe.
Am Ende des achten Kapitels wird die auktoriale Erzählweise unterbrochen. Der Chronist äußert seine persönliche Meinung und zeigt an einem Beispiel auf, dass Sidonies trauriges Schicksal hätte verhindert werden können. Vor allem im letzten Kapitel arbeitet der Autor Erich Hackl mit Informationen, die er von Zeitzeugen in Gesprächen bekommen hat. Zum Schluss klärt der Autor über die wahre Todesursache des Roma-Mädchens Sidonie auf.
"Abschied von Sidonie" – Sprache
Die Erzählung "Abschied von Sidonie" ist in einer nüchternen und sachlichen Sprache verfasst. Auf Grundlage ausführlicher Recherchen wird die Geschichte originalgetreu wiedergegeben. Dennoch hat Hackl durch seinen prägnanten und direkten Stil eine sprachlich anspruchsvolle Erzählung geschaffen.
Hackls "Abschied von Sidonie" zeichnet sich durch einige sprachliche Besonderheiten aus, die in der nachfolgenden Tabelle kurz mit ihrer Wirkung dargestellt werden:
Sprachliche Mittel | Wirkung |
Verwendung von nur wenigen Adjektiven | allgemeingültiger und nüchterner Charakter |
kaum physische Beschreibungen der Figuren | Figuren stehen für Menschen, die ein ähnliches Schicksal erlebt haben |
keine Verben, die innere Vorgänge beschreiben (z. B. denken, fühlen etc.) | Aussagen der Figuren bleiben objektiv |
keine realistischen Dialoge | sachlich-nüchtern |
viele Aufzählungen | erhöhen das Tempo und die Spannung |
parataktischer Satzbau | erhöht das Tempo |
Als Parataxe werden komplexe Sätze, in denen die Teilsätze den gleichen Rang haben, bezeichnet.
Parataktische Sätze bestehen entweder aus zwei (gleichgeordneten) Hauptsätzen oder einem Hauptsatz und zwei (gleichgeordneten) Nebensätzen.
Erich Hackl verbindet in "Abschied von Sidonie" zwei Genres miteinander. Zum einen den Sachbericht und zum anderen die literarische Erzählung. Dabei erhält die Leserschaft Sachinformationen, die in literarischer Form präsentiert werden.
"Sidonie litt an der Englischen Krankheit, einer mangelhaften Verkalkung des Knochengewebes. Ihre Beine waren nach außen gekrümmt, die Gelenke an Armen und Beinen verdickt, und der Arzt schärfte den Schwestern ein, dem Mädchen eine vitaminreiche Kost zu verabreichen, auf frische Luftzufuhr zu achten und das Bett bei jeder Gelegenheit in die Sonne zu stellen. Dabei wußte er, wie nutzlos und lächerlich solche Anordnungen in einer Stadt klingen mußten, in der chronische Leiden die Regel waren. In Steyr herrschte bittere Not."1
Redewendungen
Auffällig in Hackls Erzählung ist die Verwendung von Redewendungen und Ausdrücken aus der österreichischen Mundart. Außerdem werden Wörter und Wendungen verwendet, die heute nicht mehr üblich sind, es zur Zeit, in der die Geschichte spielt, jedoch waren. Dadurch wird die Geschichte den Lesenden authentisch präsentiert. In der folgenden Tabelle findest Du einige Bespiele für Redewendungen und Ausdrücke sowie deren Bedeutung.
Redewendung oder Ausdruck | Bedeutung |
Jause | Zwischenmahlzeit |
Lackerl | kleine Menge |
Raufhändel | Rauferei, Schlägerei |
Die hobeln euch alle. | Die kriegen euch klein. / Die bringen euch zum Reden. |
Katheder | Lehrerpult |
Gemma! | Gehen wir! |
Putz dich! | Verschwinde! Hau ab! |
Schroppen | Kinder |
"Abschied von Sidonie" – Interpretation
Die dokumentarische Erzählung "Abschied von Sidonie" kann verschieden interpretiert werden. Da sich der Autor Erich Hackl immer wieder auf reale Ereignisse bezieht, wird eine Interpretation dabei immer auf reale zeitgeschichtliche Ereignisse zurückgreifen. Zwei Hauptthemen der Erzählung sind Rassismus und Mutterliebe, die im Folgenden genauer betrachtet werden.
Rassismus
Sinti und Roma waren unter der Herrschaft der Nationalsozialisten vielen rassistischen Vorurteilen ausgesetzt. Wie die Menschen damit umgingen und welche Auswirkungen das auf bestimmte Gruppen der Bevölkerung hatte, wird in der Erzählung "Abschied von Sidonie" beispielhaft am Schicksal des Roma-Mädchens Sidonie gezeigt.
Eine erste Konfrontation mit dieser Thematik findet sich bereits im ersten Kapitel. Als Sidonie vom Amt an eine Pflegefamilie vermittelt wird, meldet sich eine junge Frau, die das Mädchen mitnimmt, es jedoch zwei Tage später wieder zurückbringt, da ihr Mann kein Kind mit schwarzer Haut wollte. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung wird am Verhalten der Menschen immer wieder deutlich, wie ablehnend und zunehmend rassistisch sich die Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes Sidonie gegenüber verhalten. Das Mädchen wird vor allem immer wieder auf ihre dunkle Haut angesprochen.
Erich Hackl beendet die Erzählung nicht mit dem Tod Sidonies, sondern erzählt das Schicksal der Menschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wodurch er darauf aufmerksam macht, dass Vorurteile und Rassismus gegen bestimmte Gruppen von Menschen trotz der schrecklichen Ereignisse weiterhin bestehen. Dadurch wird auch der Realitätsbezug bis in unsere aktuelle Zeit betont.
Mutterliebe
Nachdem Sidonie von der ersten Pflegemutter bereits nach zwei Tagen zurückgebracht wurde, wird sie von Josefa mitgenommen. Von Anfang an wird deutlich, dass es ihr egal ist, wie das Mädchen aussieht. Der Portier weist Josefa schon am Empfang darauf hin, dass Sidonie schwarz ist. Darauf antwortet Josefa:
Na und, (....) braucht auch einen Platz.1
Josefa beschützt das Mädchen auf diese Weise bereits, bevor sie es überhaupt gesehen hat und tut dies auch weiterhin. Für sie ist Sidonie einfach ein kleines Mädchen, das eine Familie braucht. Doch auch in den folgenden Jahren wird Sidonie immer wieder Opfer rassistischer Äußerungen oder abwertendem Verhalten anderer. Josefa möchte ihrer Pflegetochter eine glückliche Kindheit ermöglichen. Sie liebt Sidonie ebenso bedingungslos wie ihren leiblichen Sohn.
Josefa empfindet vom ersten Tag an eine große Verantwortung gegenüber Sidonie. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um das Mädchen und beschützt es. Als Sidonie von anderen Kindern angespuckt wird, geht sie mit ihren Kindern zum Spielen an den Waldrand, wo sich niemand außer ihnen aufhält. Sie stellt das Wohl ihrer Kinder über ihr eigenes. Als die Familie in finanzielle Schwierigkeiten gerät, bettelt sie um Essen und willigt sogar in eine kirchliche Trauung ein, um Geld für ihre Kinder zu bekommen.
Am Ende der Erzählung erzählt der Chronist, dass Josefa sich ihr Leben lang für Sidonie verantwortlich fühlte und sich die Schuld am Tod des Mädchens gab, den sie nie verwunden hat.
Hackl zeigt in dieser Erzählung, dass es unwichtig ist, ob ein Kind das leibliche ist oder nicht, denn entscheidend ist die Bindung zwischen den Menschen. Als Kontrast stellt er die leibliche Mutter Maria dar, die Sidonie anonym aussetzt, damit diese medizinisch behandelt wird, nicht wissend, ob das Kind gefunden wird oder vorher stirbt. Auch als Sidonie mit zehn Jahren zu ihr gebracht wird, weiß sie nichts mit dem Mädchen anzufangen und bittet die Fürsorgerin, das Mädchen wieder mitzunehmen.
Der Autor Erich Hackl – "Abschied von Sidonie"
Erich Hackl wurde am 26. Mai 1954 im oberösterreichischen Steyr geboren. Er studierte Germanistik und Hispanistik (spanische Sprache und Literatur) in Salzburg, Malaga und Salamanca. Unter anderem unterrichtete er als Lehrer für Deutsch und Spanisch in Wien. Seit 1983 arbeitet er als freier Schriftsteller und literarischer Übersetzer.
Die Provinz Salamanca ist eine spanische Provinz in der Region Kastilien und León. Die Hauptstadt ist Salamanca. Malaga ist die sechstgrößte Stadt Spaniens.
Hackl erhielt für sein Werk zahlreiche Preise und Auszeichnungen, unter anderem:
- Aspekte-Literaturpreis (1987)
- Evangelischer Buchpreis (1991) für "Abschied von Sidonie"
- Literaturpreis der Stadt Wien (2002)
- Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln (2004)
- Ehrenring der Stadt Steyr (2015)
- Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich (2017)
Erich Hackl recherchierte für seine Romane und Erzählungen oft in Archiven, sprach mit Zeitzeugen und beschaffte sich Originaldokumente, um seinen Geschichten Authentizität zu verleihen. Dadurch haben seine Erzählungen einen dokumentarischen Charakter.
Immer wieder setzte sich Hackl in seinen Werken mit dem Nationalsozialismus und den Ereignissen auseinander, die nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 stattfanden. Ihm geht es vor allem darum, den vergessenen Opfern eine Stimme zu geben und Verbrechen, die bis heute verschwiegen werden, publik zu machen.
"Abschied von Sidonie" – Historischer Hintergrund
Die Ereignisse und das persönliche Schicksal des Roma-Mädchens Sidonie, finden in der Erzählung von Erich Hackl zwischen 1933 und 1943 während der Machtübernahme Hitlers und des Zweiten Weltkrieges statt. In der dokumentarischen Erzählung berichtet Ernst Hackl über ein wahres Ereignis und verbindet das Schicksal Sidonies mit zahlreichen historischen Ereignissen. Welche das sind, wird in den folgenden Abschnitten erläutert.
Weltwirtschaftskrise 1929
Im Oktober 1929 begann mit dem New Yorker Börsencrash eine wirtschaftliche Krise, die auf der ganzen Welt zu spüren war. Die Produktion in der Industrie, der Handel und die internationalen Finanzen waren davon betroffen. Banken gerieten in Krisen, Unternehmen wurden zahlungsunfähig und es kam zur Massenarbeitslosigkeit. All das verursache soziale Verelendung und politische Krisen, die auch vor Europa nicht haltmachten.
In Deutschland wurden 1932 die Löhne eingefroren. Bis 1936 war die Krise größtenteils überwunden, jedoch auf Kosten der Arbeiter, die mit wenig Geld überleben mussten.
Machtergreifung Hitlers
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Meistens wird in diesem Zusammenhang von einer Machtergreifung gesprochen, manchmal aber auch von Machtübernahme. Dem Ereignis gingen Umstände voraus, die in der Bevölkerung für Unzufriedenheit sorgten und von den Nationalsozialisten genutzt wurden, um ihre Macht zu stärken.
Von 1918 bis 1933 gab es mit der Weimarer Republik in Deutschland die erste demokratische Regierung. Allerdings wurde sie in einer instabilen Zeit direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegründet und hatte mit einigen Problemen zu kämpfen. die Wirtschaft war schwach und viele Menschen waren arbeitslos. Das soziale Elend wurde von den Nationalsozialisten für ihre Propaganda ausgenutzt. Sie versprachen, Deutschland zu einem Land zu machen, in denen jeder Arbeit hätte und gut leben könnte.
Als die Weimarer Republik wird der Zeitabschnitt der deutschen Geschichte von 1918 bis 1933 bezeichnet, in dem erstmals eine parlamentarische Demokratie in Deutschland bestand. Diese Epoche löste die Monarchie der Kaiserzeit ab.
Der Völkermord an Sinti und Roma
Im Oktober 1939 wurde durch die nationalsozialistische Regierung veranlasst, dass Sinti und Roma ihre Wohnorte nicht mehr verlassen durften. Danach wurden die meisten Sinti und Roma in Lager interniert, um diese später in Konzentrationslager zu deportieren. Schon während ihrer Zeit in den Lagern mussten die Menschen Zwangsarbeit leisten.
Ab 1940 wurden Roma und Sinti systematisch deportiert. Während dieser sogenannten Mai-Deportation wurden Menschen in verlassene Dörfer, Ghettos und Lager gebracht, wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten. Zu dieser Zeit gab es auch Bestrebungen, unter anderem Roma und Sinti zu sterilisieren, damit diese Bevölkerungsgruppe ausstarb.
Ab 1941 wurden immer mehr Roma und Sinti in Konzentrationslagern ermordet. Im Dezember 1942 wurden alle Roma und Sinti, die noch im Reichsgebiet lebten, deportiert. Im März 1943 wurden Roma und Sinti unter anderem aus Österreich in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Dort starben viele Menschen durch Hunger, Krankheiten oder infolge von Misshandlungen und medizinischen Experimenten.
Der Begriff Deportation stammt von dem lateinischen Wort "deportare" ab und wird übersetzt mit "wegbringen", "fortschaffen". Bei einer Deportation werden politische Gegnerinnen und Gegner oder ganze Volksgruppen mit staatlicher Gewalt in weit entfernte Gebiete zu einem langjährigen Zwangsaufenthalt verschleppt.
Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg ca. 220.000 bis 500.000 Roma und Sinti weltweit aufgrund der Rassenpolitik des nationalsozialistischen Regimes getötet.
Abschied von Sidonie – Das Wichtigste
- "Abschied von Sidonie" – Inhaltsangabe: Erich Hackls dokumentarische Erzählung "Abschied von Sidonie" wurde 1989 veröffentlicht. Sie basiert auf der wahren Schicksalsgeschichte des Roma-Mädchens Sidonie Adlersburg, die 1933 als Findelkind im österreichischen Steyr von einer Pflegefamilie aufgenommen wurde und dort bis 1943 lebte. Als die Behörden Sidonies leibliche Mutter fanden, wurde das Mädchen zu ihrer Familie in ein Sammellager geschickt und von dort aus zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie im Alter von 10 Jahren starb.
- "Abschied von Sidonie" – Charaktere: Die wichtigsten Personen in der Erzählung "Abschied von Sidonie" sind Sidonie und ihre Familie, zu denen die Mutter Josefa, der Vater Hans, ihr Stiefbruder Manfred und die Stiefschwester Hilde gehören.
- "Abschied von Sidonie" – Analyse des Aufbaus: Sidonies kurzer Lebensweg wird in elf Kapiteln erzählt. Diese sind chronologisch angeordnet und orientieren sich an den historischen Ereignissen Österreichs zwischen 1933 und 1943. Die Erzählung ist in der auktorialen Erzählhaltung geschildert.
- "Abschied von Sidonie" – Analyse der Sprache: Die Erzählung "Abschied von Sidonie" ist in einer nüchternen und sachlichen Sprache verfasst. Hackl verwendet Redewendungen und Ausdrücke aus der österreichischen Mundart. Außerdem werden Wörter und Wendungen verwendet, die heute nicht mehr üblich sind.
- "Abschied von Sidonie" – Interpretation: Zwei Hauptthemen der Erzählung sind Rassismus und Mutterliebe.
- Sinti und Roma waren unter der Herrschaft der Nationalsozialisten vielen rassistisch geprägten Vorurteilen ausgesetzt. Das wird in der Erzählung "Abschied von Sidonie" beispielhaft am Schicksal des Roma-Mädchens Sidonie gezeigt.
- Die Thematik Mutterliebe zeigt Hackl durch die Beziehung von Josefa zu ihrer Pflegetochter. Josefa empfindet vom ersten Tag an eine große Verantwortung gegenüber Sidonie und kümmert sich aufopferungsvoll um das Mädchen. Hackl zeigt in dieser Erzählung, dass es unwichtig ist, ob ein Kind das leibliche ist oder nicht, denn entscheidend ist die Bindung zwischen den Menschen.
- "Abschied von Sidonie" – Historischer Hintergrund: Die Ereignisse und das persönliche Schicksal des Roma-Mädchens Sidonie, finden in der Erzählung von Erich Hackl zwischen 1933 und 1943 während der Machtübernahme Hitlers und des Zweiten Weltkrieges statt.
Nachweise
- Erich Hackl (1991). Abschied von Sidonie. Diogenes Verlag.