Aber wie eignen sich Menschen eigentlich Sprache an? Diese Frage beantwortet die Spracherwerbsforschung, ein Zweig der Linguistik (Sprachwissenschaft). Manchmal werden die bekanntesten Spracherwerbstheorien auch im Abitur behandelt, dazu gehören: der Behaviorismus, der Nativismus, der Konstruktivismus, der Interaktionismus und der Kognitivismus.
Spracherwerbstypen
Es gibt zwei verschiedene Spracherwerbstypen:1
- Erstspracherwerb (kann monolingual oder bilingual geschehen)
- Zweitspracherwerb (kann gesteuert oder ungesteuert sein)
Die meisten Kinder lernen eine Sprache von Geburt an, ihr Erstspracherwerb geschieht also monolingual. Lernt ein Kind zwei Sprachen von Geburt an oder bis zum zweiten Lebensjahr, wird dies als bilingualer Erstspracherwerb bezeichnet. Dies ist oft der Fall, wenn die Eltern eines Kindes verschiedene Muttersprachen haben.
Im Gegensatz dazu steht der Zweitspracherwerb: Dabei lernt ein Mensch erst eine neue Sprache, nachdem er seine Erstsprache zumindest in Grundzügen beherrscht. Beim gesteuerten Zweitspracherwerb wird eine neue Sprache systematisch erlernt, z.B. im Fremdsprachenunterricht in der Schule. Beim ungesteuerten Zweitspracherwerb geschieht der Lernprozess ohne formalen Unterricht, z.B. in einem Schüleraustausch oder Auslandsjahr.
Der Spracherwerb wird grundsätzlich aus zwei Perspektiven heraus betrachtet:2
- Phylogenese: der Spracherwerb der Menschheit
- Ontogenese: der Spracherwerb des einzelnen Menschen
In der Phylogenese wird also nach dem Ursprung der Sprache gefragt, wohingegen in der Ontogenese nach dem individuellen Spracherwerb gefragt wird.
In der Spracherwerbsforschung geht es um den individuellen Spracherwerb von Kindern. Dabei wird einerseits der Frage nachgegangen, welche Erwerbsprozesse es gibt, aber auch, ob die Erwerbswege in den verschiedenen Sprachen ähnlich sind. Auch die Voraussetzungen der Lernenden sowie die Zusammenhänge zwischen Sprache und anderen kognitiven Fähigkeiten werden untersucht.
Spracherwerbsstadien
Spracherwerb findet in verschiedenen Stadien statt. Betrachtet man diese genauer, wird deutlich, dass sich drei Dimensionen der Sprache dabei ab ungefähr einem halben Jahr bis zum etwa vierten Lebensjahr immer weiter entwickeln.
Spracherwerb – Definition
Als Spracherwerb wird das Erlernen des Sprechens bzw. einer Sprache durch einen Menschen bezeichnet.
Meist wird beim Spracherwerb der Erstspracherwerb von Kindern genauer untersucht.
Spracherwerbsphasen
Die erste Phase beginnt mit ca. sechs Monaten. Babys lallen und gurren, lernen aber auch schon Intonationsmuster. Durch die Reaktionen, die auf diese Geräusche von der Umgebung zurückgegeben werden, lernen Babys intuitiv ein Kommunikationsverhalten.
Unter Intonation versteht die Linguistik bestimmte akustisch wahrnehmbare Merkmale, wie zum Beispiel Tonhöhe, Sprechpausen und Lautstärke.
Die darauffolgende Phase beginnt ca. ab dem neunten Monat. Erste Wörter werden gesprochen. Anfangs ist es noch ein Plappern, was sich im Wiederholen gleicher Silben äußert, z.B. "Ma-ma" oder "Pa-pa". Am Ende dieser Phase, wenn das Kind eineinhalb Jahre alt ist, spricht es bereits mehrere Wörter. Bis das Kind zwei Jahre alt ist, wächst der Wortschatz auf etwa 50 Wörter an. Die Kinder sprechen nun bereits Zweiwortsätze, bei denen ein Zusammenhang deutlich wird.
Bis das Kind drei Jahre alt ist, erweitert sich der Wortschatz zusehends. In diesem Alter werden bereits Mehrwortsätze gebildet, die in ihrer Struktur der Erwachsenengrammatik ähneln. Die Sätze werden komplexer, die Aussprache besser und der Wortschatz erweitert sich weiterhin.
Spracherwerbsmodelle
Das Wort Spracherwerbsmodelle wird oft synonym mit dem Wort "Spracherwerbstheorien" verwendet. Jede Spracherwerbstheorie vertritt einen unterschiedlichen Ansatz. Die wichtigsten Spracherwerbsmodelle vertreten folgende Ansichten:
- Nativismus: Sprache ist biologisch begründet, daher haben Kinder eine innere Veranlagung zum Sprachenlernen.
- Behaviorismus: Kinder lernen Sprache v.a. durch ständiges Hören und Nachahmung von Wörtern.
- Interaktionismus: Kinder entwickeln die logischen Strukturen zum Spracherwerb durch die Interaktion mit ihren Bezugspersonen.
- Kognitivismus: Der Spracherwerb ist eine spezielle Form des kognitiven Lernens.
- Konstruktivismus: Das Kind lernt, Bedeutung und Wort miteinander zu verknüpfen und konstruiert so seine Lebenswirklichkeit.
Spracherwerbstheorien – Behaviorismus
Die älteste und zentrale These unter den Spracherwerbsmodellen ist der Behaviorismus des amerikanischen Psychologen Burrus F. Skinner. Der behavioristische Ansatz besagt, dass Sprache durch Imitation und Verstärkung erlernt wird. Das Kind äußert nach Skinner Laute, die dann von der Umwelt positiv bestätigt oder korrigiert werden. Dieses System beruht also auf Belohnung (Lob) und Strafe (Korrektur). Dadurch lernt das Kind, was richtig und was falsch ist. Nach diesem Ansatz ist das Kind weitgehend passiv, während die Umwelt es aktiv beeinflusst.
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Spracherwerbstheorien – Nativismus
Der Nativismus wurde vom US-Sprachwissenschaftler Noam Chomsky begründet und ist das Gegenmodell zum Behaviorismus. Er meint, dass Sprache, vor allem in ihrer Grammatik, zu komplex sei, als dass sie nur durch Nachahmung und Wiederholung erlernt werden könne. Chomsky geht davon aus, dass der Mensch über einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus verfügt.
Chomsky verwendete dafür den Begriff language acquisition device (= Spracherwerbsvorrichtung, kurz: LAD).
Demnach sind Kinder mit einer Universalgrammatik, also angeborenen grammatischen Kompetenzen ausgestattet, die auf alle Sprachen anwendbar sind. Nach Chomskys Theorie ist die Umwelt weitestgehend passiv. Alles läuft im Inneren des Kindes ab. Es hört die Sprache, leitet die Regeln ab und wendet diese an.
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Spracherwerbstheorien – Kognitivismus
Der Kognitivismus ist ein Modell des Schweizer Psychologen Jean Piaget, das die Verknüpfung von kognitiver und sprachlicher Entwicklung in den Vordergrund stellt. Piaget sagt, dass Sprache erst entwickelt werden kann, wenn das Denkvermögen entsprechend entwickelt ist. Grundlegend ist hierfür eine konkrete Erfahrung der Umwelt mit allen Sinnen. Es werden Vorstellungen zu Dingen erworben und verinnerlicht.
Spracherwerbstheorien – Interaktionismus
Beim interaktionistischen Modell des amerikanischen Psychologen Jerome Bruner wird die Relevanz der Sprachhelfer, also der Bezugspersonen, mit denen das Kind sprechen lernt, hervorgehoben. Das Kind steht in einem ständigen Austausch mit seiner Umwelt und lernt durch Wiederholung und soziale Interaktion. Das Kind lernt gemäß seinem Entwicklungsstand, da die Bezugspersonen ihre Sprache dem Kind anpassen. Nach und nach übernimmt es so komplexere Strukturen.
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Spracherwerbstheorien – Konstruktivismus
Die Theorie des Konstruktivismus geht davon aus, dass Sprache die Wirklichkeit konstruiert. Der Mensch nimmt keine objektive Wirklichkeit wahr, sondern erzeugt seine eigene subjektive Realität. Der Sinn von Wörtern wird dabei auf zwei Ebenen gebildet: Zum einen ordnet der Sprechenden dem Wort eine Vorstellung der Bedeutung zu. Zum anderen wird die Sprache durch grammatische Strukturen und ihre Unterteilung in Wortarten kategorisiert, sodass die Gesamtbedeutung erschlossen werden kann. Das heißt, Sprache bildet die Umwelt nicht einfach passiv ab, sondern steuert die Art und Weise, wie der Mensch die Welt auffasst.
Spracherwerbstheorien – Tabelle
Die Spracherwerbstheorien haben im Vergleich einige Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede. Eine Möglichkeit, sie zu kategorisieren, ist die Einteilung in Inside-Out-Modelle und Outside-In-Modelle.4
Die Spracherwerbsmodelle werden in zwei Kategorien eingeteilt:
- Inside-Out-Modelle vertreten die Ansicht, dass sprachliche Fähigkeiten angeborenen sind oder eine Veranlagung dafür besteht.
- Outside-In-Modelle fassen Theorien zusammen, die meinen, sprachliches Wissen müsse wie andere Fähigkeiten erlernt werden. Oft sind Umweltreize ein Auslöser des Lernprozesses.
In der folgenden Tabelle findest Du die einzelnen Spracherwerbstheorien im Vergleich. Die Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Ansichten, die zeitliche Einordnung, Vertreter der Theorien und zeigt, ob eine Lerntheorie eher die äußeren Einflüsse oder inneren Fähigkeiten in den Vordergrund rückt.
Vergleichs-kriterium | Behaviorismus | Nativismus | Kognitivismus | Interaktionismus | Konstruktivismus |
Spracherwerb durch | Konditionierung | angeborene Sprachfähigkeiten | kognitive Entwicklung | Interaktion mit sprachlichem Umfeld | Konstruktion von Sprache durch Verarbeitung der Umweltreize |
Denkrichtung | Outside-In-Modell | Inside-Out-Modell | Outside-In-Modell | Outside-In-Modell | Outside-In-Modell |
Zeit | ab ca. 1900 | ab 1960er-Jahre | ab 1920er-Jahre | ab 1950er-Jahre | ab 18. Jhd. |
Wichtigster Vertreter | Burrus F. Skinner | Noam Chomsky | Jean Piaget | Jerome Bruner | Richard Rorty |
Sichtweise | Gegenteil vom Nativismus | Gegenentwurf zum Behaviorismus | konstruktivistischer Gegenentwurf zum Behaviorismus | vereint Prinzipien des Nativismus und Kognitivismus | Radikalisierung des Kognitivismus |
Umwelt | aktiv - Umwelt als Vorbild
- Kind hört elterliche Sprache
| passiv - wenig Einfluss der Umwelt
| passiv | aktiv- Umwelt als Vorbild
- Anpassung an Kinder-Niveau
| passiv |
Kind | passiv- Einprägen durch Hören von Sprache
- Wiederholung des Gehörten
| passiv- Nutzen der angeborenen Fähigkeiten
| aktiv - Reizverarbeitung als kognitiver Prozess
- Lernen aus Reizverarbeitung
| z.T. aktiv und passiv- Entwicklung logischer Strukturen vor Sprache
- Lernfähigkeit ist angeboren
| aktiv- Entwickeln eigener Bedeutung durch Umwelteinflüsse
- Erschließen von Bedeutung durch Satzzusammenhang
|
Lernprozess | passiv - Lernen durch Imitation
- Lernen durch Konditionierung (Lob oder Strafe)
| passiv- Lernen basiert auf angeborenen Fähigkeiten
- Lernen durch Anwendung und Erweiterung der angeborenen Universalgrammatik
| aktiv - kognitive Entwicklung eng mit Lernen verknüpft
- Lernen durch aktive Verarbeitung von Reizen
| passiv- Unterstützung der Weiterentwicklung von angeborenen Fähigkeiten durch Interaktion mit den Eltern
- Lernen durch Wiederholung und Imitation
| aktiv- Konstruktion von Informationen
- Konstruktion der eigenen Wirklichkeit durch Sprache
|
Spracherwerbstheorien – Kritik
Die Spracherwerbsmodelle wurden immer wieder kritisiert. Chomsky als Begründer des Nativismus kritisierte den Behaviorismus, weil das Gehirn und die Intelligenz nicht berücksichtigt werden und Sprache als zu komplex gilt, um nur durch Nachahmung erlernt zu werden. Weiterhin wird kritisiert, dass der Behaviorismus der kindlichen Kreativität und Offenheit nicht gerecht wird.
Beim Nativismus wird kritisiert, dass die Psychologie des Spracherwerbs und der Sprachverarbeitung nicht berücksichtigt werden. Auch das Prinzip einer Universalgrammatik ist umstritten, da sich einzelne Sprachen stark in ihrer grammatischen Struktur unterscheiden. Zudem wird kritisiert, dass die Umwelt in der Theorie des Nativismus nur eine auslösende Rolle spielt.
Das Modell des Kognitivismus stellt die geistige Entwicklung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen — und genau das wird kritisiert, denn wann ein Kind sprechen kann, wird vermutlich auch genetisch beeinflusst. Auch die Entwicklung körperlicher Fertigkeiten werden im Kognitivismus vernachlässigt.
Beim Interaktionismus wird kritisiert, dass keine Erklärung erfolgt, wenn Kinder einen Fehler machen. Am Konstruktivismus wird kritisiert, dass das Verstehen von Zusammenhängen bei Kleinkindern kaum berücksichtigt wird. Zudem ist das Denken eher analytisch geprägt und erfasst somit nicht den Gesamtprozess des Spracherwerbs.
Letztendlich ergänzen sich die Spracherwerbstheorien gegenseitig: Der Behaviorismus, der das Imitieren und Wiederholen beim Sprachenlernen betont, wird durch den Nativismus, bei dem die angeborenen Spracherwerbsfähigkeiten wichtig sind, ergänzt. Der Kognitivismus ergänzt dies um die enge Verbindung von Sprache und kognitiver Entwicklung. Der Interaktionismus rückt eine Bezugsperson als Sprachhelfer in den Mittelpunkt. Durch den Konstruktivismus wird die subjektive Wahrnehmung der Umwelt und die Entstehung von Bedeutungen ergänzt.
Spracherwerbstheorien - Das Wichtigste
Spracherwerbstypen: Es gibt den Erstspracherwerb von Geburt an und den Zweitspracherwerb nach dem Erlernen einer Erstsprache, z.B. im Fremdsprachenunterricht.
Spracherwerb – Definition: Als Spracherwerb wird das Erlernen des Sprechens bzw. einer Sprache durch einen Menschen bezeichnet.
Spracherwerbsmodelle: Zum Spracherwerb gibt es verschiedene Modelle, wie den Behaviorismus (Lernen durch Verstärkung von Verhalten), Nativismus (Sprachfähigkeiten sind angeboren), Kognitivismus (Sprache als Form des kognitiven Lernens), Interaktionismus (Lernen durch Interaktion mit Bezugspersonen) und Konstruktivismus (Konstruktion von Bedeutungen prägt Weltsicht).
Spracherwerbstheorien – Behaviorismus: Sprache wird durch Imitation der Eltern und positive oder negative Verstärkung (Lob oder Strafe) erlernt.
Spracherwerbstheorien – Vergleich: Die Theorien ergänzen sich gegenseitig, weisen aber auch wichtige Unterschiede auf, z.B. ob sprachliche Fähigkeiten angeboren sind oder ob die Umwelt bzw. das Kind beim Lernprozess aktiv oder passiv wirken.
Spracherwerbstheorien – Kritik: An jeder Theorie gibt es Kritikpunkte. Heute wird von einer Mischtheorie ausgegangen, sodass verschiedene Aspekte aus jeder Theorie aufgegriffen werden.
Nachweise
- Geist (2014). Sprachdiagnostische Kompetenz von Sprachförderkräften. De Gruyter Verlag.
- intrapsychisch.de: Spracherwerbstheorien: Phylogenetischer und ontogenetischer Spracherwerb. (20.01.2023)
- socialnet.de: Spracherwerb. (20.01.2023)
- Schätz (2017). Deutsch als Zweitsprache fördern. Springer Verlag.
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Gabriel Freitas ist AI Engineer mit solider Erfahrung in Softwareentwicklung, maschinellen Lernalgorithmen und generativer KI, einschließlich Anwendungen großer Sprachmodelle (LLMs). Er hat Elektrotechnik an der Universität von São Paulo studiert und macht aktuell seinen MSc in Computertechnik an der Universität von Campinas mit Schwerpunkt auf maschinellem Lernen. Gabriel hat einen starken Hintergrund in Software-Engineering und hat an Projekten zu Computer Vision, Embedded AI und LLM-Anwendungen gearbeitet.
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