Nativismus

Viele Kinder sprechen ihre ersten Worte, wenn sie ungefähr ein Jahr alt sind. Bereits mit ca. drei Jahren sind sie in der Lage korrekte Sätze zu bilden, die aus mehr als zwei Wörtern bestehen. Dabei lernen sie die Sprache innerhalb einer kurzen Zeit, ohne dass ihnen jemand die komplizierte Grammatik erklären muss und ganz ohne Vokabelheft.  Doch ist die Fähigkeit, eine Sprache zu lernen, angeboren?

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    Auch Forschende in der Sprachwissenschaft stellten sich diese Frage und entwickelten daher die Spracherwerbstheorie des Nativismus. Im Nativismus wird angenommen, dass der Spracherwerb angeborene biologische Grundlagen hat.

    Nativismus – Definition

    Nativismus kommt vom lateinischen nativus, was "angeboren" oder "natürlich" bedeutet. Der Nativismus ist ursprünglich eine Theorie der Psychologie, die davon ausgeht, dass Menschen bestimmtes Wissen oder bestimmte Fähigkeiten, wie z.B. den Spracherwerb, von Geburt an besitzen.

    Das heißt, dass Neugeborene dem Nativismus nach eine genetische Veranlagung für bestimmte Fähigkeiten haben. Sie müssen sie nicht von Anfang an erlernen und ihre Umwelt hat auf diese Fähigkeiten nur wenig Einfluss.

    Spracherwerbsmodelle lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen. Die eine Gruppe geht davon aus, dass Kinder die Sprache vor allem durch die Interaktion und durch das Vorbild ihrer Eltern lernen (Nurture). Die andere Gruppe nimmt an, dass die Fähigkeit zum Spracherwerb angeboren ist (Nature).

    Nurture kann als Erziehung, das Großziehen oder Pflege übersetzt werden. Nature bezeichnet die Natur und verweist so auf den biologischen Ansatz der Theorien.

    Nativismus – Spracherwerb

    Der Ansatz des Nativismus wird in der Linguistik genutzt, um zu erklären, wie Kinder ihre Erstsprache und deren Grammatik lernen. Der Nativismus erklärt den Spracherwerb damit, dass jedes Neugeborene mit der besonderen Fähigkeit zum Spracherwerb zur Welt kommt.

    Die Spracherwerbsforschung beschäftigt sich vor allem mit dem kindlichen Erstspracherwerb. Sie arbeitet interdisziplinär und greift Aspekte der Linguistik, der Entwicklungspsychologie, der Biologie und der Neurowissenschaften auf.

    Universalismus – Nativismus

    Die Grundannahme des Nativismus ist die Existenz einer angeborenen Prädisposition, also einer genetischen Veranlagung für den Spracherwerb und die Verwendung von Sprache. Der Linguist Noam Chomsky behauptet sogar, dass allen Sprachen eine Universalgrammatik zugrunde liegt. Das Wissen darüber ist Chomsky zufolge bei Kindern bereits angeboren. Diese Ansicht wird auch als Sprachlicher Universalismus bezeichnet.

    Der sprachliche Input der Umgebung spielt dagegen eine untergeordnete Rolle, hilft dem Kind aber, seine eigene Sprachstruktur weiterzuentwickeln. Dieser Erklärungsansatz wird auch als Inside-Out-Modell bezeichnet. Denn das Innere, also die genetische Veranlagung des Sprachvermögens, existiert bereits von Geburt an und kommt schrittweise "nach draußen".

    Noch mehr zu Chomskys Universalismus findest Du im Abschnitt "Spracherwerb: Nativismus – Chomsky". Sein Prinzipien-und-Parameter-Modell basiert auf dieser Annahme.

    Abgrenzung zu anderen Theorien

    Der Nativismus steht im Gegensatz zu den Theorien, die den Spracherwerb als Outside-In-Modelle und als reine Lern-Prozesse auffassen. Dieser wird vor allem durch äußere Faktoren, wie beispielsweise den sprachlichen Input oder die elterliche Interaktion und Kommunikation beeinflusst.

    Die Theorie des Behaviorismus fasst den Spracherwerbsprozess als Lernprozess auf, der vor allem durch die Imitation des sprachlichen Vorbilds der Eltern, sowie durch positive und negative Verstärkung beeinflusst wird.

    Die Theorie des Interaktionismus geht davon aus, dass die Sprache durch soziale Interaktion und gemeinsame Handlungen und Rituale zwischen Eltern und Baby erworben wird.

    Die Theorie des Kognitivismus erklärt den Spracherwerb als Entwicklungsprozess, der eng mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung eines Kindes verbunden ist.

    Der Nativismus entwickelte sich als Gegenentwurf zum Behaviorismus, der besagt, dass Neugeborene als "unbeschriebenes Blatt" zur Welt kommen und ausschließlich durch Imitation sowie positive und negative Verstärkung lernen.

    Mehr Informationen zum Spracherwerb und den Modellen findest Du z.B. in den Erklärungen "Spracherwerbstheorien", "Behaviorismus", "Interaktionismus" oder "Kognitivismus" bei StudySmarter.

    Spracherwerb: Nativismus – Chomsky

    Der Professor für Sprachwissenschaft Noam Chomsky entwickelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die nativistische Theorie, die den kindlichen Spracherwerb als einen biologisch gegebenen und angeborenen Mechanismus beschreibt, der bei jedem Kind nach der Geburt aktiviert wird. Chomsky entwickelte verschiedene Modelle, die er später jedoch teilweise revidierte oder weiterentwickelte.

    Noam Chomsky ist einer der bekanntesten Linguisten des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 7. Dezember 1928 in Philadelphia in den USA geboren. Chomsky ist emeritierter Professor (im Ruhestand) am Massachusetts Institute of Technology.

    Poverty-of-the-stimulus Argument

    Das Hauptargument der nativistischen Spracherwerbstheorie ist das sogenannte Poverty-of-the-stimulus-Argument. Es besagt, dass der Input, mit dem Kinder in ihren ersten Lebensjahren konfrontiert sind, nicht ausreichend ist, um eine Sprache und ihre Grammatik zu erlernen.

    Poverty of the stimulus heißt wörtlich übersetzt "Armut des Reizes".

    Diese Input-Informationen, die das Kind aufnimmt, sind nämlich oft grammatisch fehlerhaft, uneindeutig oder auch unvollständig. Kinder könnten die Sprache nicht so korrekt lernen und kompetent anwenden, wenn sie ausschließlich über den Input der Umgebung lernen würden. Dies führt bei den Nativisten zu der Annahme, dass es eine angeborene Fähigkeit zum Spracherwerb geben muss.

    Language Acquisition Device

    Dem Nativismus nach wird im Gehirn des Kindes ein language acquisition device (= Spracherwerbsvorrichtung, kurz: LAD) beschrieben, durch das ein Kind bestimmte universale, also in allen Sprachen gleiche Merkmale in der Grammatik erkennen und einordnen kann.

    Kinder besitzen zudem ein angeborenes Hypothesenbildungs- und Hypothesenbewertungsverfahren. Diese beiden Fähigkeiten sorgen dafür, dass Kinder den gehörten sprachlichen Input mit ihrem grammatikalischen Wissen abgleichen und dann die zu ihrer Umgebung passende Grammatik herausfinden können.

    Die Vorstellung eines language acquisition device ist nur möglich, weil im Nativismus angenommen wird, dass die sprachlichen Fähigkeiten sich unabhängig von der kognitiven Entwicklung des Kindes weiterentwickeln.

    Prinzipien-und-Parameter-Modell

    Chomsky entwickelte das Language-Acquistion-Device-Modell weiter zum Prinzipien-und-Parameter-Modell. Kern dieses Modells ist die Annahme der Existenz der angeborenen Universalgrammatik. Chomsky versteht darunter universelle grundlegende grammatische Prinzipien, die für alle Sprachen dieser Welt gelten.

    Ein grundlegendes Prinzip im Sinne der Universalgrammatik ist, dass Sprachen aus Wörtern bestehen, die wiederum in verschiedene Wortarten eingeteilt werden. Auch dass sie in Form von Sätzen zusammengebracht und miteinander kombiniert werden können, ist universal.

    Chomsky nimmt an, dass das Wissen um diese allgemeinen Prinzipien in jedem Menschen von Geburt an gespeichert ist. Natürlich unterscheiden sich die Sprachen jedoch durch bestimmte Merkmale, sogenannte Parameter.

    Im Sinne der Universalgrammatik sind zunächst alle Parameter noch offen. Das bedeutet, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt jede vorstellbare Sprache lernen könnte. Nach der Geburt bekommt das Baby sprachlichen Input über seine Bezugspersonen und die Universalgrammatik spezifiziert sich nach und nach zu einer einzelsprachlichen Grammatik. Dieser Prozess geschieht durch die Auswahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Parametern.

    Ein Parameter der deutschen Grammatik ist beispielsweise die Subjekt-Verb-Struktur, wie bei dem Satz "Ich gehe".

    Stück für Stück sorgt die Auswahl und Festlegung von Parametern dafür, dass Sprachen unterschieden werden und am Ende eine spezifische Sprache "herauskommt".

    Im Deutschen gibt es Adjektive, genau wie auch im Italienischen, was wiederum bedeutet, dass das Prinzip "Wortart Adjektiv" in beiden Sprachen existiert. Jedoch unterscheiden sich beide Sprachen im Parameter der Positionierung des Adjektivs: Im Deutschen stehen Adjektive vor dem Nomen, z.B. ein roter Pullover, während im Italienischen die Adjektive i.d.R. nach dem Nomen stehen, z.B. una felpa rossa. Der Parameter "Position des Adjektivs" unterscheidet die beiden Sprachen voneinander.

    Ein Kind nimmt also verschiedene Parameter wahr und filtert daraus jene, die für seine Muttersprache gültig sind. Diese Filtermechanismen sind ebenfalls angeborene (und keine erlernten) Erwerbsstrategien.

    Spracherwerb: Nativismus – Pinker

    Der Linguist Steven Pinker vertritt ebenfalls die nativistische Sicht, dass sprachliches Wissen angeboren ist. Er ist bekannt für seine Theorie, dass die Sprache ein Instinkt sei. Auch Pinker vertritt die Ansicht, dass Menschen mit kognitiven Modulen geboren werden und durch eine Auswahl gewisser Module (wie in Chomskys Prinzipien- und Parameter-Modell) eine Sprache lernen.

    Pinker unterteilt den Spracherwerb in vier große Phasen:

    1. Das Kind beginnt die Sprache zu erwerben, hat aber noch kein spezifisches Wissen darüber.
    2. Das Kind nimmt die gesprochenen Sätze und ihren Kontext in seiner Umgebung auf.
    3. Die "mentalen Algorithmen" wandeln den Input in sprachliches Wissen um.
    4. Am Ende steht eine Muttersprache, deren Grammatik korrekt beherrscht wird.1

    Für den Spracherwerb gibt es nach Pinker eine "kritische Phase", in der Kinder schnell und ohne große Mühe viele neue Dinge dazulernen. Mit dem Alter nimmt diese Fähigkeit ab, sodass das Erlernen einer Fremdsprache im Erwachsenenalter aufwendiger ist.

    Pinker ist Professor für Psychologie am Harvard College in den USA und beschäftigt sich auch mit Theorien des Denkens und der Psycholinguistik.

    Nativismus – Pro/Contra

    Zwar gilt der Nativismus in seiner strengen "Reinform" als überholt und nicht mehr zeitgemäß. Dennoch gibt es auch Erkenntnisse, die für die genetische Veranlagung einiger Mechanismen des Spracherwerbs sprechen.

    Nativismus – Pro-Argumente

    Für eine genetische Grundlage des Spracherwerbs spricht, dass Kinder ihre Erstsprache implizit lernen. Das bedeutet, sie sind im Regelfall in der Lage, in verhältnismäßig kurzer Zeit zu kompetenten Sprecherinnen und Sprechern zu werden. Sie lernen ihre Erstsprache also nicht aktiv und nicht explizit, wie das zum Beispiel beim Erlernen einer Fremdsprache der Fall wäre.

    Außerdem sind universale Muster beim Spracherwerb erkennbar. Es gibt also bestimmte Abläufe und Reihenfolgen, in denen Kinder bestimmte Strukturen ihrer Erstsprache lernen. Diese Abläufe sind bei allen Kindern ähnlich.

    In den ersten Lebensmonaten kommunizieren Babys vor allem durchs Schreien, dann folgen Lallen, die Bildung von Silben und Nachahmung von Lautfolgen, bis sie ab ca. 8 Monaten erste Wörter sprechen können. Ihr Wortschatz erweitert sich zunehmend und mit 1,5 bis 2 Jahren sprechen Kleinkinder erste kurze Sätze.2

    Des Weiteren existieren nach Pinker sensible und kritische Fenster während des Spracherwerbs. Während diesen Zeiten sind Kinder besonders spracherwerbsfähig. Danach nimmt die Sprachlernfähigkeit kontinuierlich ab, sodass Erwachsene schwieriger neue Sprachen lernen können.

    Den Großteil ihrer sprachlichen Fähigkeiten haben Kinder bis zum Ende des vierten Lebensjahres ausgebildet. Mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens in der Grundschulzeit gilt der Spracherwerb als abgeschlossen. 2

    Nativismus – Spracherwerb: Kritik

    Nach der Ansicht der Nativisten spielen der sprachliche Input und die Interaktion der Umgebung eines Kindes lediglich eine auslösende Rolle beim Spracherwerb (Triggerfunktion). Dies ist der Hauptkritikpunkt am Nativismus: Aktuelle Sichtweisen argumentieren, dass der sprachliche Input der Bezugspersonen eine größere und wichtigere Rolle einnimmt. Auch die Idee eines angeborenen Grammatikmoduls im Gehirn ist umstritten: Kognitionswissenschaftler vermuten eher, dass Kinder verschiedene, auch nicht sprachspezifische Fähigkeiten anwenden, z.B. die Kategorienbildung.3

    Die Universalgrammatik brachte Chomsky ebenfalls viel Kritik, denn diese These deutet an, dass es nur viele unterschiedliche Ausprägungen einer menschlichen Sprache gibt. Die Universalgrammatik wurde zunächst anhand einiger europäischen Sprachen entwickelt. Doch andere Sprachen der Welt passten nicht in dieses Schema, sodass Chomsky seine Theorie selbst mehrfach überarbeiten musste.4

    Heute wird vermutet, dass Kinder zwar angeborene Fähigkeiten in Bezug auf die Sprache besitzen, aber in ihrer sprachlichen Entwicklung trotzdem auch auf den sprachlichen Input und die soziale Interaktion mit ihrer Umgebung angewiesen sind. Man vereint heute somit mehrere Theorien in Mischmodellen, das heißt in sogenannten Emergenz- oder Hybridmodellen.

    Nativismus - Das Wichtigste

    • Der Nativismus ist eine Theorie aus der Psychologie, die davon ausgeht, dass Menschen bestimmtes Wissen oder bestimmte Fähigkeiten, wie z.B. zum Spracherwerb, von Geburt an besitzen.
    • Nach Noam Chomsky besitzen alle Kinder im Gehirn ein LAD (language acquisition device), in dem das Wissen über eine Universalgrammatik (=Prinzipien) gespeichert ist. Durch sprachlichen Input erschließt sich das Kind einzelsprachliche Parameter und damit seine Muttersprache.
    • Sprachliche Aussagen im sozialen Umfeld besitzen beim nativistischen Spracherwerb nur eine Triggerfunktion.
    • Steven Pinker vertritt die Ansicht, dass Sprache ein Instinkt sei und es eine "kritische Phase" gibt, in der Kinder ihre sprachliche Kompetenz besonders schnell erweitern.
    • Kritisch ist am Nativismus vor allem die Vernachlässigung der sozialen Prägung, aber auch die Annahme einer angeborenen Universalgrammatik, da nicht alle Sprachen dieselben Merkmale aufweisen.

    Nachweise

    1. Pinker (1996). Language Learnability and Language Development Revisited. Harvard University Press Verlag.
    2. kita.de: Spracherwerb bei Kindern: Verlauf, Meilensteine und Förderung im Überblick. (13.01.2023)
    3. sprachbildung.net: Spracherwerbstheorien und alltagsintegrierte Sprachbildung. (13.01.2023)
    4. intrapsychisch.de: Chomskys Theorie der Universalgrammatik. (13.01.2023)
    5. Meibauer et al. (2015). Einführung in die germanistische Linguistik. Metzler-Verlag.
    Häufig gestellte Fragen zum Thema Nativismus

    Was ist Nativismus? 

    Der Nativismus ist eine Theorie der Psychologie, die annimmt, dass Menschen bestimmte Fähigkeiten, wie z.B. zum Spracherwerb, angeboren sind. Laut dem Linguisten Chomsky gibt es im Gehirn eine angeborene Spracherwerbsvorrichtung, die das Wissen über eine für alle Sprachen geltende Universalgrammatik enthält.

    Wie entstand der Nativismus?

    Der Nativismus entstand als Gegenentwurf zum Behaviorismus und ist vor allem geprägt durch die Ansichten des Linguisten Noam Chomsky. Die Nativisten stellten fest, dass Kinder ihre Muttersprache schnell lernen, auch wenn der sprachliche Input ihrer Umgebung fehlerhaft ist. Deshalb vermuten sie, dass Kinder über ein genetisch veranlagtes Wissen über Sprache verfügen müssen.

    Was ist die Kritik am Nativismus?

    Kritisch ist am Nativismus vor allem die Vernachlässigung der sozialen Prägung durch die Umwelt, aber auch die Annahme einer angeborenen Universalgrammatik, da nicht alle Sprachen dieselben Merkmale aufweisen.

    Wann entstand der Nativismus?

    Der Nativismus entstand in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts. Die ersten Theorien Chomskys wurden in den 1960er-Jahren veröffentlicht.

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