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Eine Ameise ist im Vergleich zu uns nicht besonders intelligent. Jedoch schaffen es Ameisen, riesige Kolonien zu bilden, weite Straßennetze anzulegen und manche halten sogar Nutztiere oder züchten Pilze. Ein Ameisenhaufen ist ein komplexes und intelligentes System, das weit über die Summe der Intelligenz aller einzelnen Ameisen hinausgeht. Dieses Phänomen nennt man Emergenz.
Emergenz einfach erklärt
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
(Aristoteles)
Dieses (vereinfachte) Zitat von Aristoteles (384–322 v. Chr.) beschreibt sehr treffend, was Emergenz bedeutet. Aristoteles war ein griechischer Philosoph, dessen Philosophie stark von Natur, insbesondere Biologie, beeinflusst war. Er gilt als Begründer der Logik als Wissenschaft und der Emergenztheorie.
Emergenz bezeichnet das Phänomen, dass aus vielen einfachen Dingen ein komplexes System entsteht, ähnlich wie bei einem Ameisenhaufen und dessen Kolonie. Dieses System, die Gesamtheit aller Teile, nennt man auch Ganzheit. Eine Ganzheit kann Eigenschaften haben, die über die Summe der Einzelteile hinausgeht – sogenannte emergente Eigenschaften.
Emergenz (von lat. emergere = "auftauchen, entstehen") beschreibt das Entstehen neuer Eigenschaften in einem komplexen System (Ganzheit) durch das Zusammenspiel einfacher Elemente nach bestimmten Regeln. Diese Eigenschaften können mehr sein als die Summe der Eigenschaften der einfachen Elemente. Durch das Zusammenspiel von Einfachem entsteht etwas Neues und Komplexeres.
Mehr ist also nicht nur mehr von dem Gleichen, sondern auch anders. Wie dieses "anders" aussieht, also welche emergenten Eigenschaften entstehen, ist aber unvorhersehbar. Es ist demnach unmöglich, aus den Eigenschaften der einfachen Elemente eine neue emergente Eigenschaft abzuleiten, die entsteht, wenn sich diese Elemente zusammenschließen.
Ebenso unvorhersehbar ist, wie viele Elemente nötig sind, damit eine neue emergente Eigenschaft entsteht. Fest steht aber, dass es eine Mindestanzahl an einfachen Elementen benötigt, damit ein System mit emergenten Eigenschaften entstehen kann, auch wenn diese Anzahl nicht vorhersehbar ist. Man nennt das Irreduzibilität. Für eine Ameisenkolonie reichen drei Ameisen eben nicht aus. Stattdessen bestehen kleinere Kolonien aus mindestens ein paar Dutzend Ameisen.
Doch was haben Ameisen und Emergenz mit Psychologie zu tun? Die Antwort ist: Jede Menge! Emergente Phänomene treten in allen möglichen Bereichen auf. Dazu gehören die Biologie, Physik, Chemie und eben die Psychologie. Neben dem menschlichen Körper auf biologischer Ebene hat die Emergenz etwa eine besondere Bedeutung in der Ganzheits- und Gestaltpsychologie. Auch in der Sozialpsychologie spielen emergente Phänomene eine wichtige Rolle. Ein bekanntes Beispiel ist die Gesellschaft, die sich aus unglaublich vielen Teilen zu einem großen und komplexen System zusammensetzt.
In der Erklärung zur "Ganzheit- und Gestaltpsychologie" erfährst du mehr zur Bedeutung von Emergenz in der Psychologie.
Das Emergenzprinzip
Wie genau funktioniert aber nun Emergenz? Woher weiß z. B. eine einzelne Ameise, was ihre Aufgabe in einem komplexen System ist?
Jede Ameise handelt nach bestimmten, genetisch festgelegten Regeln. Diese Regeln sorgen dafür, dass aus dem Chaos vieler Einzelteile (also einzelner Ameisen) eine Ordnung (also eine Ameisenkolonie) entsteht. Das folgende Beispiel veranschaulicht die Regeln innerhalb einer Ameisenkolonie:
Jede Ameise hat in ihrer Kolonie eine bestimmte Aufgabe. Stell Dir vor eine Kolonie besteht zu gleichen Teilen aus Arbeiterinnen, Brutpflegerinnen, Soldatinnen und Sammlerinnen. Jede Ameise scheidet ständig chemische Botenstoffe aus, die anderen Ameisen ihre aktuelle Aufgabe mitteilt. Treffen Ameisen aufeinander, registrieren sie die Aufgabe der jeweils anderen – jede Ameise zählt sozusagen ständig, wie viele Arbeiterinnen, Brutpflegerinnen, Soldatinnen und Sammlerinnen sie trifft.
Jetzt stell dir vor, ein Ameisenbär frisst den Großteil der Sammlerinnen. Die gesamte Kolonie würde verhungern, wenn nicht andere Ameisen die Aufgaben der Sammlerinnen übernehmen würden. Aber woher weiß eine Arbeiterin, dass sie nun zur Sammlerin werden muss? Die Arbeiterin registriert weiterhin die Aufgaben der Ameisen, auf die sie trifft, wird aber noch kaum auf Sammlerinnen treffen. Wenn ein kritischer Wert unterschritten ist, die Arbeiterin also auf zu wenige Sammlerinnen trifft, wechselt sie ihre Aufgabe und wird selbst zur Sammlerin. Andere Ameisen tun das Gleiche, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist.
Jede einzelne Ameise folgt also der simplen Regel "Werde zur Sammlerin, wenn du zu wenige Sammlerinnen triffst". Dabei entsteht ein komplexes System, das immer wieder ein Gleichgewicht der verschiedenen Aufgaben herstellt und sich somit selbst erhält.
Eine einzelne Ameise hat nicht die Möglichkeit, das Gleichgewicht wiederherzustellen, sondern nur, ihre eigene Aufgabe zu wechseln. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts ist die emergente Eigenschaft der Kolonie, also des Systems oder der Ganzheit.
Jede neu erschaffene Ganzheit ist gleichzeitig aber wieder ein Einzelteil, welches sich erneut mit weiteren Einzelteilen zu einem noch größeren und komplexeren System verbinden kann. Der Vorgang kann unendlich oft wiederholt werden, Emergenz ist also unendlich. Jeden einzelnen Vorgang kann man sich als Schicht oder Emergenzebene vorstellen. Mit jeder Ebene wird es komplexer und jede Ebene bringt neue emergente Eigenschaften hervor.
Damit du dir besser vorstellen kannst, was mit den Emergenzebenen gemeint ist, hier noch ein Beispiel aus der Physik zu emergenten Eigenschaften von Wasser:
Wenn Wassermoleküle (erste Ebene) sich bei einer bestimmten Temperatur nach bestimmten Regeln anordnen, entstehen auf der zweiten Ebene Eiskristalle. Diese wiederum können sich zu Schneeflocken (dritte Ebene) verbinden, welche sich zu einem Schneesturm (vierte Ebene) entwickeln können.
Auch wir Menschen sind das Ergebnis emergenter Phänomene. Die Atome, aus denen wir bestehen, sind nicht in der Lage, Handel zu treiben oder Kriege zu führen. Diese Eigenschaften entstehen erst mehrere Emergenzebenen darüber, wie dir das folgende Beispiel zeigt:
Atome interagieren und bilden Moleküle. Moleküle verbinden sich zu Proteinen. Proteine setzen sich zu Organellen zusammen. Diese wiederum bilden Zellen und auf dieser Emergenzebene entsteht aus toten Einzelteilen plötzlich Leben als emergente Eigenschaft. Und es geht noch weiter: Zellen verbinden sich zu komplexen Organen. Organe formen Individuen. Individuen bilden Gesellschaften und so weiter...
Zu den emergenten Eigenschaften, die auf der Emergenzebene Gesellschaft entstehen, gehören sozialpsychologische Phänomene wie z. B. Normen und Werte. Diese Eigenschaften hat ein einzelnes Individuum nicht, sie treten erst auf, wenn sich mehrere Individuen zusammenschließen.
Die Emergenztheorie in der Psychologie
Jetzt kannst du dir hoffentlich mehr unter Emergenz vorstellen, aber fragst dich vielleicht zurecht, was das Ganze denn nun mit Psychologie zu tun hat. Emergente Phänomene gibt es überall: in der Biologie, der Physik, der Chemie, der Soziologie und eben in der Psychologie.
Eine bedeutende psychologische Strömung, die sich intensiv mit emergenten Phänomenen beschäftigt, ist die Ganzheits- oder Gestaltpsychologie. Sie beschäftigt sich vorwiegend mit der menschlichen Fähigkeit, Strukturen und Prinzipien aus einfachen Elementen wahrzunehmen. Außerdem sieht sie den Menschen selbst als emergentes, also ganzheitliches, System und widerspricht dabei der Auffassung, man könnte das menschliche Seelenleben verstehen, indem man all seine Einzelteile versteht.
Darüber, ob der wichtigste Forschungsgegenstand der Psychologie – unser Geist oder Bewusstsein – ein emergentes Phänomen ist, gehen die Meinungen aber auseinander.
Die Emergenztheorie – Bewusstsein als emergentes Phänomen?
Einige Vertreter*innen der Philosophie und Psychologie sind überzeugt, dass das Bewusstsein eine emergente Eigenschaft unseres Gehirns ist. Zu diesen gehörte unter anderem der englische Philosoph und Schriftsteller George Henry Lewes, der in diesem Zusammenhang übrigens auch zum ersten Mal das Wort Emergenz verwendete. Gegner*innen dieser Annahme meinen, dass Bewusstsein aus seinen Einzelteilen erklärbar sein wird, sobald wir alle Einzelteile bis ins Detail verstanden haben.
Trotzdem lassen sich aus den Eigenschaften der einzelnen Nervenzellen kaum Erkenntnisse über unser Denken, Wahrnehmen, Handeln oder gar unser Bewusstsein ableiten. Gerade das Bewusstsein ist etwas, worüber wir bis heute erstaunlich wenig wissen.
Es gibt also Eigenschaften unseres Gehirns, die über die Eigenschaften seiner Einzelteile hinausgehen. Der britische Philosoph Samuel Alexander und der britische Zoologe und Psychologe Conwy Lloyd Morgan entwickelten dazu die sogenannte Emergenztheorie. Beide gehen auch davon aus, dass Bewusstsein sich rein biologisch nicht hinreichend erklären lässt, also ein emergentes Phänomen darstellt.
Emergenz in der Systemischen Therapie
Eine Psychotherapie-Richtung, die Emergenz und emergente Phänomene besonders mit einbezieht, ist die Systemische Therapie.
In der Systemischen Therapie liegt der Schwerpunkt der Behandlung auf dem sozialen Kontext. Es wird also nicht nur die Person behandelt, die eine psychische Störung hat, sondern auch ihr soziales Umfeld mit einbezogen.
Erinnere dich einmal an das Beispiel zu den Emergenzebenen: Gesellschaften sind Systeme, die durch die soziale Interaktion von Individuen entstehen. Zu den emergenten Eigenschaften dieses Systems gehören Normen und Werte. Normen und Werte lernen wir zum Großteil bereits als Kinder und prägen ganz entscheidend unser Zusammenleben mit anderen Menschen.
Vertreter*innen der Systemischen Therapie sehen Normen, Werte und die Art der Interaktion mit anderen Menschen als bedeutend für die Entstehung und demzufolge auch für die Behandlung psychischer Störungen an.
Zu Inhalten, Methoden und dem Ablauf findest du eine weitere ausführliche Erklärung unter "Systemische Therapie".
Ein weiteres Beispiel für Emergenz – John Conways Game of Life
Ein schönes Beispiel für Emergenz, das du selbst ausprobieren kannst, ist das 1970 entworfene Game of Life ("Spiel des Lebens") des britischen Mathematikers John Conway.
Das Spielfeld besteht aus gleich großen Quadraten und ist im Idealfall unendlich groß (das geht natürlich nur am Computer). Jedes Quadrat steht für ein Individuum oder eine Zelle und kann entweder tot oder lebendig sein.
Zu Beginn wird eine beliebige Population oder Anfangsgeneration auf dem Spielfeld platziert. Danach kann nicht mehr in das Spiel des Lebens eingegriffen werden, das Spiel läuft von selbst ab und folgt dabei den folgenden einfachen Regeln:
- Jede lebende Zelle, die von drei anderen lebenden Zellen umringt ist, überlebt und kommt in die nächste Generation.
- Jede lebende Zelle, die von vier oder mehr lebenden Zellen umringt ist, stirbt aufgrund von Überpopulation.
- Jede lebende Zelle, die von weniger als zwei lebenden Zellen umringt ist, stirbt an Einsamkeit.
- Jede tote Zelle, die von drei lebenden Zellen umringt ist, wird in der nächsten Generation lebendig.
Ziel des Spiels ist es, die Population über so viele Generationen wie möglich am Leben zu halten. Dabei entwickeln sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Zellen komplexe Strukturen, die wachsen, sich selbst erhalten oder sich sogar gegenseitig "angreifen" und "töten" können. Was mit einer Anfangspopulation einige Generationen später passiert, ist trotz der einfachen Regeln schwer vorhersagbar.
Ein Beispiel für Emergenz im Game of Life sind sogenannte Raumschiffe. Das sind Objekte, die sich unendlich in eine bestimmte Richtung fortbewegen, ohne zu verschwinden oder zu wachsen. Die vier Regeln sagen nichts über solche Fortbewegungen aus und doch entstehen durch die Regeln der Emergenz Raumschiffe.
Emergenz - Das Wichtigste
- Emergenz beschreibt das Entstehen neuer Eigenschaften in einem komplexen System (Ganzheit) durch das Zusammenspiel einfacher Elemente nach bestimmten Regeln.
- Emergente Eigenschaften sind unvorhersehbar.
- Jede neue Ganzheit ist gleichzeitig wieder ein Einzelteil, das zur Entstehung einer komplexeren Ganzheit beitragen kann. Man spricht hier von Emergenzebenen.
- In der Psychologie spielt Emergenz besonders in der Gestaltpsychologie und der Systemischen Therapie eine Rolle.
- Wissenschaftler*innen sind sich uneinig, ob das Bewusstsein als emergentes Phänomen betrachtet werden kann.
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Häufig gestellte Fragen zum Thema Emergenz
Was sind emergente Zustände?
Emergente Zustände oder emergente Phänomene sind das Entstehen neuer Eigenschaften in einem komplexen System durch das Zusammenspiel einfacher Einzelteile.
Was versteht man unter Emergenz?
Unter Emergenz (von lat. emergere = "auftauchen, entstehen") versteht man das Entstehen neuer Eigenschaften in einem komplexen System (Ganzheit) durch das Zusammenspiel einfacher Elemente nach bestimmten Regeln.
Was ist das Emergenzprinzip?
Das Emergenzprinzip besagt, dass aus Chaos eine Ordnung mit emergenten Eigenschaften entsteht, indem viele einfache Einzelteile nach bestimmten Regeln miteinander interagieren.
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