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Mit diesem Problem beschäftigt sich die sogenannte Hermeneutik.
Der Begriff Hermeneutik stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "erklären". Die Hermeneutik wird auch als Kunst oder Theorie der Auslegung verstanden. Im Grunde geht es bei der Hermeneutik darum, die Sinnzusammenhänge in Texten jeglicher Art zu verstehen. Dazu gehören niedergeschriebene Texte, aber auch Dialoge oder andere Gesprächsformen.
Hermeneutische Verfahren – Entstehung und Funktion der Hermeneutik
In der Philosophie wird der Begriff Hermeneutik als das "Auslegen und Verstehen menschlicher Ausdrucksformen" schon seit dem 17. Jahrhundert benutzt. In Bezug auf die Psychotherapie meint Hermeneutik vor allem das Interpretieren und Verstehen von sowohl verbalen als auch nonverbalen Ausdrücken der Patient*innen.
Allgemein versteht man unter dem Begriff Hermeneutik die Auslegung von Texten. Die Hauptaufgabe ist es, den Sinn hinter einer Aussage herauszufiltern und zu verstehen. Um das zu ermöglichen, nutzt die Hermeneutik die Bedeutung von Symbolen oder auch Vorkenntnisse zu bestimmten Personen.
Die objektive Hermeneutik
In einigen Textquellen wirst du vielleicht den Begriff objektive Hermeneutik lesen. Dabei handelt es sich um eine strengere Eingrenzung der Hermeneutik. Die objektive Hermeneutik versucht, die Materialien (beispielsweise Texte oder auch errechnete Zahlen) so zu interpretieren, dass es möglichst wenig subjektiven Einfluss gibt.
Es geht dabei weniger darum, was ein Individuum wirklich ausdrücken will, sondern viel mehr um eine objektive Interpretation von Daten. Allerdings muss beachtet werden, dass man die Subjektivität eines Menschen, der etwas sagt oder errechnet, niemals ganz ausschließen kann.
In der Literatur ist oft die Rede von der hermeneutischen Interpretation. Diese Bezeichnung bezieht sich allerdings in der Regel nicht auf den Einsatz in der Psychologie. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Form der Textinterpretation, die beispielsweise in den Sprachwissenschaften genutzt wird. Dabei wird jede Art von Texten interpretiert. Dazu gehören unter anderem Geschichten, Bibelstellen oder philosophische Texte.
Hermeneutische Verfahren – Hermeneutischer Zirkel
Die Grundlage des hermeneutischen Verfahrens ist der sogenannte hermeneutische Zirkel.
Der hermeneutische Zirkel bildet die theoretische Grundlage des hermeneutischen Verfahrens. Er ist ein theoretisches Gebilde, das aus einer Abfolge von verschiedenen Verständnisebenen besteht.
Der Grundsatz, auf dem der hermeneutische Zirkel aufbaut, entspricht der Grundregel der Rhetorik, die besagt: Es kann von dem Einzelnen auf das Ganze geschlossen werden. Durch diese Regel entsteht ein Paradoxon. Damit die Regel im Kontext der Hermeneutik aufgehen kann, muss auch ein Teil des Ganzen schon bekannt sein. Aus diesem Paradoxon entsteht dann der hermeneutische Zirkel.
Ein Paradoxon ist eine Behauptung, die auf den ersten Blick unsinnig und falsch scheint. Bei genauerer Analyse wird jedoch deutlich, dass die Aussage einen Sinn hat und der Wahrheit entspricht.
Damit das hermeneutische Verfahren funktioniert, muss das Einzelne als Teil des Ganzen verstanden werden.
Diese daraus entstehende Kreisbewegung wird als hermeneutischer Zirkel bezeichnet und wirkt auf den ersten Blick paradox. Wenn du einer Sache Sinn verleihen willst, musst du das Prinzip vorher schon teilweise verstanden haben. Es braucht eine gewisse Form von Vorwissen, um neues Wissen über eine Sache erlangen zu können.
Das folgende Beispiel soll dir verdeutlichen, wie der hermeneutische Zirkel und die Grundregel der Rhetorik funktionieren.
In der Schule wird immer wieder auf Vorwissen aufgebaut. Im Matheunterricht hast du beispielsweise zuerst die Grundrechenarten gelernt und dich dann zu immer komplexeren Aufgaben hochgearbeitet. Es wäre ziemlich schwer gewesen, wenn du in der 1. Klasse schon Exponentialfunktionen gelernt hättest.
In Abbildung 1 findest du den hermeneutischen Zirkel dargestellt. Dieser Zirkel kann theoretisch endlos wiederholt werden, da sich das Vorwissen, das in der Abbildung als Vermutungen bezeichnet werden, durch neue Einflüsse jeglicher Art ändern kann. Somit verändern sich auch die Erarbeitungen von Texten. Dieser Kreislauf kann dementsprechend unendlich weitergehen. Bei der Anwendung des hermeneutischen Verfahrens wird er in der Regel auch mehrfach durchlaufen.
Was muss beim hermeneutischen Zirkel beachtet werden?
Wird der hermeneutische Zirkel in der Psychotherapie angewendet, kann es zu verschiedenen Problemen kommen, denn der Prozess setzt ein bestimmtes Vorwissen voraus. In diesem Fall muss der subjektive Hintergrund der Person bekannt sein, um alle Aussagen richtig verstehen zu können. Da der/die Therapeut*in, nicht alles über die aktuellen Patient*innen wissen kann, kann es schnell zu Missverständnissen kommen.
Außerdem birgt das Vorwissen an sich eine Gefahr. Denn die Person, die etwas verstehen soll, bringt stets sein/ihr eigenes Vorwissen mit. Das kann dazu führen, dass diese Person auf Basis ihres Vorwissens vorschnelle Sinnzusammenhänge bildet. Somit wird der eigentliche Sinn nur bruchstückhaft oder gar nicht wahrgenommen.
Um diese Probleme zu vermeiden, ist es wichtig, den Verstehensprozess immer wieder zu kontrollieren und zu reflektieren. Dadurch kann der hermeneutische Zirkel in die hermeneutische Spirale überführt werden, die neue Erkenntnisse möglich macht. Dieser Wechsel von Zirkel zu Spirale ist der Kernschritt des hermeneutischen Verfahrens.
Die hermeneutische Spirale
Die hermeneutische Spirale ist ein Lernmodell aus dem Bereich der integrativen Therapie nach dem deutschen Psychologen Hilario Gottfried Petzold. Er gilt als Begründer des psychotherapeutischen Verfahrens der integrativen Therapie. Mit seinen Vorstellungen hat er die Hermeneutik und das hermeneutische Verfahren auch stark geprägt. Für ihn ist das Lernen ein dynamischer und mehrdimensionaler Prozess. Die Spirale besteht dabei aus mehreren wiederkehrenden Stufen:
- Wahrnehmen: Wir nehmen über unsere Sinnesorgane wahr. Wir können nur das wahrnehmen, was sich uns zeigt. Alles, was von dem Erwarteten oder dem Gewohnten abweicht, ist das, was wir als Phänomen wahrnehmen und was Anlass zur Reflexion gibt. Somit richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf.
- Erfassen: Beim Erfassen nehmen wir die Atmosphäre, die Gefühle und die Stimmung auf. Durch das Erfassen und das Wahrnehmen entsteht ein unbewusster Austausch zwischen der Person und ihrer Umwelt. Dieser Prozess kommt im Alltag oft vor. Wenn eine Person einer anderen zuhört, erfasst diese Person gleichzeitig die Situation.
- Verstehen: In diesem Schritt ist es besonders wichtig, bewusst zu versuchen, die Phänomene von einer Interpretation zu trennen, damit das Verstehen nicht durch Vorurteile oder subjektive Erfahrungen beeinflusst wird.
- Erklären: Im letzten Schritt werden Wissen, Werte und Handlungen bewusst miteinander verknüpft und vernetzt. Wichtig hierbei ist, dass alle Teilnehmenden mit den entstehenden Verbindungen einverstanden sind.
Auch wenn diese vier Stufen wiederkehrend sind, ist die Spirale im Gegensatz zum hermeneutischen Zirkel kein kreisförmiger Prozess. Man kommt zwar ebenfalls immer wieder zu den gleichen Themen, befindet sich aber nie auf der gleichen Ebene.
Wenn man hier zu demselben Thema zurückkehrt, hat man sich innerhalb des Prozesses schon weiter entwickelt und hat somit eine neue Perspektive auf das Ganze. Dadurch entsteht auch die Form der Spirale, die immer als Aufwärtsspirale betrachtet wird.
Dass es dabei weder "falsche" noch "richtige" , sondern andernfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen geben kann, folgt aus der Geschichtlichkeit der Verstehenskonstituenten und der damit zusammenhängenden Unabschließbarkeit der hermeneutischen Spirale (Jürgen Bolten, Die Hermeneutische Spirale. Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie, in Poetica H3/4, 1985)
Wie du siehst, gibt es kein richtig oder falsch bei der Anwendung der hermeneutischen Spirale. Dadurch, dass man sich im Laufe des Prozesses verschiedene Aspekte einer Aussage immer wieder anschaut, wird die Interpretation nur angemessener. Selbst mit der hermeneutischen Spirale wird der Sinn von Aussagen nie vollständig verstanden werden können.
In manchen Texten werden die hermeneutische Spirale und der hermeneutische Zirkel gleichgesetzt bzw. miteinander verbunden. Somit wird ein Begriff für beides genutzt. Beachte auch, dass die einzelnen Denkprozesse nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind, sondern oftmals ineinander übergehen.
Beim integrativen Therapieansatz handelt es sich um ein Vorgehen in der Psychotherapie. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Einzigartigkeit der Menschen und ihrer Lebensumstände dazu führt, dass für jede*n ein einzigartiger Therapieansatz geschaffen werden muss. Die Therapieform kann je nach Fortschritt angepasst werden. Außerdem werden auch Dinge wie Zeit, Mittel und Rahmenbedingungen berücksichtigt. Wenn es hilft und erwünscht ist, können auch Bezugspersonen mit einbezogen werden.
Hermeneutische Verfahren - Beispiel
Um das hermeneutische Verfahren besser zu verstehen, findest du hier ein Beispiel aus einer Therapiesitzung.
Herr Schlau ist Psychotherapeut und hat heute eine Sitzung mit Frau Nett. Frau Nett ist eine neue Patientin. Herr Schlau weiß noch nicht viel über sie. Als sie zu ihrer Sitzung erscheint, kommen die beiden gleich in ein offenes Gespräch. Frau Nett spricht über ihr Anliegen.
Als Herr Schlau ihr eine vertiefende Frage stellt, lächelt sie kurz, bevor sie antwortet. Dieses Lächeln bringt Herrn Schlau zum Nachdenken. Das Lächeln eines Menschen kann Freude, aber auch Trauer oder Ironie ausdrücken.
Da Frau Nett gerade nicht besonders bedrückt wirkt, tut Herr Schlau es als freundliches und erfreutes Lächeln ab.
Was er aber nicht weiß, ist, dass seine Frage Frau Nett traurig gemacht hat, weil sie dadurch an ihren kürzlich verstorbenen Hund denken musste. Da sie aber nicht gerne darüber sprechen wollte, hat sie versucht, ihre Trauer mit einem Lächeln zu verstecken.
Herr Schlau hätte an dieser Stelle mit Frau Nett darüber hinwegsehen müssen, was er wahrgenommen hat. Anschließend hätte er die einzelnen Schritte der hermeneutischen Spirale mit Frau Nett durchlaufen sollen. Somit hätte er seine eigenen Erfahrungen und Vorurteile bewusst von der Situation getrennt und im Gespräch den wahren Grund für das Lächeln herausfinden können.
Neben dem Einsatz in der Psychotherapie wird das hermeneutische Verfahren oftmals bei der Arbeit mit Texten genutzt, beispielsweise bei der Auslegung von Bibelstellen. Im Kontext der Therapie bietet es allerdings eine Möglichkeit, den inneren Sinn von sowohl verbalen als auch nonverbalen Ausdrücken zu finden.
Hermeneutische Verfahren - Das Wichtigste
- Die Hermeneutik ist die Theorie und Kunst der Auslegung.
- Die Grundlage des hermeneutischen Verfahrens bildet der paradoxe hermeneutische Zirkel: Es kann vom Einzelnen auf das Ganze geschlossen werden und andersherum.
- Um den Sinn einer Sache zu verstehen, muss man schon ein gewisses Vorwissen über die Sache haben.
- Um aus dem Zirkel auszubrechen, braucht es die hermeneutische Spirale, die aus vier Schritten besteht: Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären.
- Das Wichtigste bei diesem Verfahren ist, dass das Subjektive (Vorwissen, Vorurteile) so gut wie möglich von dem Phänomen getrennt wird.
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Häufig gestellte Fragen zum Thema Hermeneutische Verfahren
Wie funktioniert Hermeneutik?
Die Hermeneutik nutzt das Wissen über Symbole und Personen, um den Sinn eines Textes zu verstehen. Außerdem ist es wichtig, die eigenen subjektiven Systeme von dem Text oder der Aussage zu trennen. So kann man den wahren Sinn der Aussage erkennen.
Was ist der hermeneutische Zirkel?
Beim hermeneutischen Zirkel handelt es sich um einen kreisförmigen Denkprozess. Er baut auf der Grundregel der Rhetorik auf: Es kann von dem Einzelnen auf das Ganze geschlossen werden. Damit diese Regel aufgeht, muss das Einzelne als Teil des Ganzen gesehen werden und somit muss das Ganze stückweise auch bekannt sein.
Warum objektive Hermeneutik?
Bei der objektiven Hermeneutik wird versucht, dass es möglichst wenig subjektiven Einfluss auf Deutung von Texten gibt. Somit bleibt im Idealfall nur eine objektive Interpretation von Daten übrig.
Warum entstand Hermeneutik ?
Die Hermeneutik hat ihre Wurzeln schon in der Antike. Damals war es besonders wichtig, die Wünsche der Götte interpretieren zu können. Außerdem war das die Zeit der großen Philosophen, wodurch auch ihre Texte gedeutet werden mussten.
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