Psychologie im Nationalsozialismus

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Deutschland eines der wichtigsten Länder für die Psychologie. Denn viele einflussreiche Psycholog*innen lebten und arbeiteten zu dieser Zeit in Deutschland. Diesem durch den deutschen Psychologen Wilhelm Wundt begründeten Aufschwung der Psychologie als Wissenschaft sollte der Nationalsozialismus ein brutales Ende setzen.

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    Wilhelm Wundt, deutscher Physiologe, Philosoph und Psychologe, gründete 1879 in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie. Damit ebnete er den Boden für die Psychologie als Wissenschaft, sowohl in Deutschland als auch weltweit. Er gilt daher als Vater der empirischen Psychologie. Empirisch bedeutet, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.

    Psychologie im Nationalsozialismus – Bedeutung für deutsche Psychologinnen und Psychologen

    Eine der größten psychologischen Strömungen dieser Zeit, die Gestaltpsychologie, hatte ihr Zentrum mit der "Berliner Schule der Gestaltpsychologie" in der deutschen Hauptstadt. Die deutschen Psychologen Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Kurt Koffka gelten als Gründer dieser Schule. Die Gestaltpsychologie befasst sich mit der Wahrnehmung und der Fähigkeit, Strukturen und Ordnungen zu erkennen.

    Die zweite große psychologische Strömung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die durch den österreichischen Psychiater Sigmund Freud begründete Psychoanalyse. Sie gilt als erste Form der Psychotherapie überhaupt und befasst sich in erster Linie mit dem Unbewussten und inneren seelischen Konflikten.

    Wenn Du mehr zur "Ganzheits- und Gestaltpsychologie" erfahren möchtest oder wissen willst, was die "Gestaltgesetze" sind, klick Dich gern in die ausführlichen Erklärungen dazu rein! Auch zu "Sigmund Freud" sowie der von ihm begründeten "Tiefenpsychologie und Psychoanalyse" findest Du ausführliche Informationen.

    Im Frühjahr 1933 erließ die NS-Herrschaft das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dieses Gesetz führte zur Entlassung oder Zwangspensionierung zahlreicher führender Hochschullehrer*innen, die jüdischer Herkunft waren oder als "ideologisch unzuverlässig" galten, deren Ansichten also nicht in die nationalsozialistische Weltanschauung passte. Davon waren neben den drei oben genannten Gründern der Gestaltpsychologie auch weitere deutsche und österreichische Psycholog*innen betroffen. Viele von ihnen emigrierten daraufhin in die USA und verhalfen den USA damit zu ihrer Rolle als führende Psychologie-Nation. Die meisten von ihnen kehrten nach Kriegsende nicht nach Deutschland zurück.

    Zu den Schicksalen deutscher Psycholog*innen während des NS-Regimes:

    Max Wertheimer, deutscher Psychologe und Mitbegründer der Gestaltpsychologie, emigrierte nach seiner Entlassung 1933 in die USA und trug mit seiner Forschung dort entscheidend zur Verbreitung der Gestaltpychologie in den USA bei.

    Wolfgang Köhler, im heutigen Estland geboren und in Deutschland aufgewachsen, war Psychologe und Mitbegründer der Gestaltpsychologie. Er wurde 1933 nicht entlassen und protestierte als einziger Psychologe öffentlich gegen das Gesetz und die Entlassung jüdischer Kolleg*innen. Nachdem er und sein Institut mehrfach von den Nazis angegriffen worden waren, beantragte er 1935 seine Emeritierung und emigrierte in die USA.

    Kurt Koffka, deutscher Psychologe und Mitbegründer der Gestaltpsychologie, emigrierte bereits 1924 in die USA und trug dort ebenfalls zur Verbreitung der Gestaltpsychologie bei.

    Sigmund Freud, im heutigen Tschechien geboren und Begründer der Psychoanalyse, emigrierte nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 aus Wien nach London.

    Kurt Huber, Schweizer Psychologe und Philosoph, lehrte zur Zeit der NS-Diktatur an der Universität München. 1942 lernte er dort Mitglieder der Weißen Rose kennen und verfasste gemeinsam mit Hans Scholl die letzten Flugblätter der Widerstandsbewegung. 1943 wurde er von den Nazis festgenommen und hingerichtet.

    William Stern, deutscher Psychologe, schied noch vor dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie aus. 1933 verlor er seine Professorenstelle und emigrierte in die USA.

    Otto Selz, deutscher Philosoph und Psychologe, wurde wegen seiner jüdischen Herkunft durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand versetzt. 1938 wurde er für fünf Wochen ins KZ Dachau verschleppt und emigrierte daraufhin nach Amsterdam. Trotz seiner Bemühungen und Unterstützung durch Max Wertheimer erhielt er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters kein Visum für die USA und wurde nach der Besetzung der Niederlande von den Nazis verhaftet und im KZ Auschwitz ermordet.

    Kurt Lewin, geboren im heutigen Polen, war ein bedeutender Sozialpsychologe und gehörte der Berliner Schule der Gestaltpsychologie an. Er emigrierte nach seiner Entlassung aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 in die USA und starb 1947 an Herzversagen durch Überarbeitung.

    Karl Bühler, deutscher Psychologe, war 1938 Leiter des psychologischen Institutes in Wien, als der "Anschluss" Österreichs erfolgte. Er wurde kurz inhaftiert und emigrierte anschließend gemeinsam mit seiner Frau Charlotte Bühler in die USA.

    Charlotte Bühler, deutsche Psychologin, folgte ihrem Mann Karl Bühler 1922 nach Wien und trug entscheidend zum internationalen Erfolg des Wiener Institutes bei. Wegen ihrer jüdischen Abstammung emigrierte sie mit ihrem Mann 1938 in die USA, kehrte jedoch kurz vor ihrem Tod 1974 nach Deutschland zurück.

    Siegfried Bernfeld, geboren im damaligen Österreich-Ungarn, war ein deutscher Psychoanalytiker und Jugendforscher. Er setzte sich um 1930 für eine soziale Psychologie in der Arbeiterbewegung ein und kritisierte den Kapitalismus sowie die aufkommende Psychotechnik als Vorläufer der heutigen Arbeitspsychologie. Bernfeld war Jude und emigrierte 1934 über Frankreich in die USA.

    Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heute begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen. 1

    - Sigmund Freud

    Damit bezieht sich Freud auf die Tatsache, dass neben zahlreichen anderen Büchern auch psychoanalytische Werke öffentlich verbrannt wurden. Seine Aussage wirkt jedoch angesichts der unzähligen Morde durch die NS-Diktatur unfreiwillig zynisch. Wegen der hohen Anzahl jüdischer Wissenschaftler*innen auf diesem Gebiet wurde die Psychoanalyse von den Nazis als "jüdische Wissenschaft" bezeichnet.

    Der Inhalt der Theorien passte außerdem nicht zum Welt- und Menschenbild des NS-Regimes. Die Psychoanalyse sei zu sehr auf Individuen ausgerichtet, während das Ziel des Nationalsozialismus die Schaffung einer Volksgemeinschaft war. Auch, dass Menschen triebgesteuert seien und der Fokus auf Sexualität passten wenig in die nationalsozialistische Weltanschauung.

    Tipp: Wenn Du mehr darüber erfahren willst, wie die Verfolgung im Nationalsozialismus abgelaufen ist, schau Dich doch mal im Fach Geschichte um, dort findest Du viele spannende Erklärungen zu dieser Thematik.

    Psychologie im Nationalsozialismus – Alltag

    Regimetreue Psycholog*innen durften während der NS-Zeit weiter ihrer medizinischen und empirischen Arbeit nachgehen, auch wenn der Begriff Psychoanalyse nicht mehr verwendet werden durfte. Zu diesen Regimetreuen gehörte etwa der deutsche Psychiater und Psychoanalytiker Matthias Göring, der 1933 Mitglied der NSDAP, SA, des NS-Ärztebundes und Vorsitzender der neu gegründeten allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie wurde. Seine wissenschaftliche Arbeit war jedoch – im Gegensatz zu seiner Position zu dieser Zeit – kaum von Bedeutung.

    Teilweise wurde versucht, die Psychologie als Beleg für die NS-Ideologie zu benutzen oder die Ideologie damit zu erklären. Zum Beispiel wurde bei fast allen psychologischen Eigenschaften der Einfluss der Gene überbetont. Dadurch sollte die nationalsozialistische Überzeugung bestätigt werden, dass es genetisch bestimmte menschliche Rassen gibt, die anderen, vermeintlich genetisch minderwertigen ethnischen Gruppen, überlegen sind.

    Von den Nazis gefördert wurden besonders bestimmte Teilbereiche der angewandten Psychologie, dazu gehörte insbesondere die Wehrmachtpsychologie.

    Welche Teilbereiche die angewandte Psychologie heute umfasst erfährst du in der Erklärung "Anwendungsdisziplinen der Psychologie". Dort findest Du natürlich noch viele weitere Erklärungen, z.B., welche "Berufs- und Arbeitsfelder der Psychologie" es heute gibt.

    Psychologie im Nationalsozialismus – Beispiele

    Wehrmachtpsychologie & Psychotechnik

    Schon vor Kriegsbeginn wurde die Wehrmacht stark ausgebaut. Die Wehrmachtpsychologie wurde von den Nazis finanziell und personell stark gefördert und diente in erster Linie der Eignungsuntersuchung und dem Training von Piloten und Marineoffizieren. Eine besondere Rolle spielten die Ausarbeitung und Anwendung standardisierter Tests sowie die Psychotechnik, die sich unter anderem mit Berufseignung und Optimierung der Arbeitsleistung beschäftigte. Letztere gilt als Wegbereiter der heutigen Arbeitspsychologie. Die neu gegründete Heeres- und Luftwaffenpsychologie wurde 1942 bereits wieder aufgelöst: Es gab so hohe Verluste unter den Soldat*innen, dass ein Auswahlverfahren überflüssig wurde.

    Eine weitere Aufgabe von Wehrmachtpsycholog*innen war es, Soldat*innen so schnell wie möglich wieder einsatzfähig zu machen. Die hohe Belastung der Front hinterließ oft psychische Schäden, denen Psychiater*innen an der Front mit z. T. äußerst unethischen Methoden entgegenwirken sollten. Dazu zählten unter anderem heftige Elektroschocks oder tagelange eiskalte Wasserbäder, bei denen sogar der Tod der Soldat*innen in Kauf genommen wurde.

    Die Idee dahinter war, dem erlittenen Schock an der Front einen noch stärkeren (im wahrsten Sinne des Wortes) Schock entgegenzusetzen, damit die Betroffenen das Erlebte vergessen würden. In Wahrheit erkennt man an diesen Methoden die große Hilflosigkeit und Überforderung der Behandelnden – die "Therapien" waren nicht nur wirkungslos, sondern verschlimmerten die Belastungen der betroffenen Soldat*innen oftmals noch.

    Einfluss der Massenpsychologie

    Der französische Mediziner und Psychologe Gustave Le Bon gilt mit seinem 1895 erschienenen Buch "Psychologie der Massen" als ein Mitbegründer der sogenannten Massenpsychologie.

    Die Massenpsychologie ist ein Thema der politischen und Sozialpsychologie. Sie beschäftigt sich mit dem Verhalten von Menschen in großen Ansammlungen oder Massen. Heute wird statt Massenpsychologie eher der Begriff kollektives Verhalten genutzt.

    Le Bon ging bei der Massenpsychologie davon aus, dass eine Gruppe von Menschen unter bestimmten Umständen bestimmte Eigenschaften entwickeln und Gefühle und Gedanken in eine gemeinsame Richtung ausrichten kann. Dabei würden die persönlichen Charaktereigenschaften in den Hintergrund rücken und stattdessen eine Gemeinschafts- oder Massenseele entstehen. Le Bon nutzte außerdem den Begriff der Rassenseele, um gemeinsame kulturelle Eigenschaften einer Masse zu beschreiben, und beschrieb, wie der Staat die Masse mittels Propaganda beherrschen kann.

    Hitler soll dieses Buch gelesen haben und von ihm beeinflusst worden sein, so wurde die Propaganda eines der wichtigsten Werkzeuge der nationalsozialistischen Regierung. Allerdings ist nicht belegt, dass Psycholog*innen durch gezielte Manipulation dabei geholfen haben, Propaganda zu verbreiten oder die Bevölkerung im Alltag folgsam zu machen. Das liegt unter anderem daran, dass es zu dem Zeitpunkt nur wenig Forschung zu Meinungsbeeinflussung und Einstellungsänderung gab. Zwar erfüllte die Propaganda ihren Zweck, welche psychologischen Effekte ihr zugrunde liegen, war aber nicht bekannt.

    Quantität statt Qualität der Psychologie

    Vor allem in der angewandten Psychologie kam es im Nationalsozialismus zu einem quantitativen Aufschwung. Die Anzahl der Institute, Studierenden und Arbeitsplätze stieg im Vergleich zur Vorzeit deutlich an. In diesem Zuge wurde 1941 auch die – nationalsozialistisch und rassistisch durchsetzte – "Diplomprüfungsordnung für Studierende der Psychologie" verabschiedet, die auch nach Kriegsende bis 1973 erhalten blieb.

    Der neue Diplom-Studiengang half der Psychologie bei der Anerkennung als eigenständiges Hauptfach, die Qualität der Forschung litt jedoch in den 30er- und 40er-Jahren stark. Heute hat so gut wie keine der Theorien aus der Psychologie im Nationalsozialismus Bestand. Die meisten dieser Theorien dienten der Stützung der nationalsozialistischen Ideologie, ihnen fehlte jedoch jegliche wissenschaftliche Überprüfung.

    Entnazifizierung der Psychologie

    Nach dem Krieg setzten sich die vier Besatzungsmächte Frankreich, Großbritannien, USA und die Sowjetunion das Ziel, Deutschland zu entnazifizieren, also Nazis aus wichtigen Positionen zu entfernen. In der Psychologie bedeutete das zum Beispiel, Hochschullehrer*innen oder Institutsleiter*innen zu ersetzen. Passiert ist das kaum, da es zu wenige geeignete Fachleute gab, um sie zu ersetzen. Viele behielten ihre Stelle ohne Einschränkungen, sodass sich die deutsche Psychologie in der Nachkriegszeit bis in die 1950er-Jahre kaum veränderte.

    Bei der sogenannten "re-education" ("Neu-Erziehung") setzten die Besatzungsmächte Verfahren aus dem Behaviorismus oder der Sozialpsychologie ein, um in der deutschen Bevölkerung Einstellungen zu ändern.

    Psychologie im Nationalsozialismus - Das Wichtigste

    • Viele Psycholog*innen waren gezwungen, das Land zu verlassen, oder sie fielen der Verfolgung durch die NS-Diktatur zum Opfer.
    • Deutschland verlor den Status als eins der führenden Länder in der Psychologie, die psychologische Forschung brach in vielen Bereichen ein, beispielsweise in der Gestaltpsychologie.
    • Ein wichtiger Anwendungsbereich in dieser Zeit war die Wehrmachtpsychologie.
    • Die NS-Weltanschauung spielte eine sehr große Rolle, teilweise sollten psychologische Theorien sie bestätigen, ohne dass diese Theorien empirisch untersucht wurden.
    • Eine gründliche Entnazifizierung der Psychologie nach dem Krieg fand nicht statt.

    Nachweise

    1. Gay, P., & Freud, S. (2006). Freud: Eine Biographie für unsere Zeit (3. Aufl., ungekürzte Neuausg). Fischer-Taschenbuch-Verl.
    2. Geuter, U. (1988). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus (1. Aufl). Suhrkamp.
    3. Klee, E. (2015). Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945 (Aktualis. Ausg., 5. Aufl). Fischer-Taschenbuch-Verl.
    4. Tuchel, J., & Albert, J. (2016). Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 330.
    Häufig gestellte Fragen zum Thema Psychologie im Nationalsozialismus

    Wurde die Psychologie im Nationalsozialismus für Propaganda benutzt?

    Die Psychologie wurde im Nationalsozialismus kaum (gezielt) für Propagandazwecke genutzt, da es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend Forschungserkenntnisse zu Einstellungsänderung und Meinungsmanipulation gab.

    Was ist Wehrmachtpsychologie?

    Die Wehrmachtpsychologie ist eine psychologische Teildisziplin, deren Anwendungsbereich vor allem in der Eignungsuntersuchung und dem Training von Piloten und Offizieren und der Behandlung von kriegsbezogenen psychischen Problemen lag. Die Wehrmachtpsychologie erlebte vor allem im zweiten Weltkrieg einen Boom.

    Welche Auswirkungen hatte der Nationalsozialismus auf die Psychologie?

    Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die deutschsprachige Psychologie waren die Verschlechterung der Qualität psychologischer Forschung, der quantitative Aufschwung in den angewandten Disziplinen und das Ende einiger psychologischer Strömungen in Deutschland, da ihre Vertreter auswanderten oder dem Regime zum Opfer fielen.

    Wie passte sich die Psychologie im Nationalsozialismus an die Ideologie an?

    Die Psychologie im Nationalsozialismus betonte sehr stark die genetische Komponente psychischer Eigenschaften und Erkrankungen, um die Rassenideologie- und Hygiene der Zeit zu stützen.

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